Zu viel des Guten
Von der wachsenden Bedrohung durch multiresistente Bakterien hat sicher jeder schon gehört. Dass der übermäßige Einsatz von Antibiotika aber auch mit der rasanten Verbreitung von Asthma, Adipositas und Typ-I-Diabetes zusammenhängen könnte, belegt der Autor dieses Buchs, indem er zahlreiche Studien überzeugend aufarbeitet. Martin J. Blaser ist Arzt und Wissenschaftler, der auf Ansteckungskrankheiten spezialisiert ist und an der New York University jahrzehntelang über Bakterien geforscht hat, die den menschlichen Körper besiedeln.
Blaser warnt vor der möglichen Verbreitung neuer pandemischer Mikroben (Keimen, die länderübergreifende Infektionswellen verursachen) und benennt die Gefahr, dass der Antibiotikagebrauch unsere Körperabwehr schwächen könnte. Das wirkt zunächst etwas alarmistisch, doch in späteren Kapiteln liefert der Autor solide Belege dafür. Dem allgemeinen Faktenwissen rund um Bakterien, das er präsentiert, fehlt anfangs ein wenig der rote Faden; erst im vierten Kapitel beginnt die eigentliche Argumentation, die dann aber sehr spannend ausfällt.
Nutztiere als Brutstätten resistenter Keime
Kritisch sieht Blaser die weit verbreitete vorbeugende Gabe von Antibiotika, bei der Mediziner "Millionen behandeln, um wenige Hundert zu schützen, die tatsächlich ein hohes Infektionsrisiko haben". Diese Praxis ignoriert die Nebenwirkungen solcher Arzneistoffe – sei es, weil diese oft indirekt oder verspätet eintreten und deshalb Ursache und Wirkung hier schwer zuzuordnen sind. Zu viele Verschreibungen von Antibiotika, ebenso wie deren übermäßiger Gebrauch in der Landwirtschaft als so genannte Leistungsförderer, begünstigen die Entstehung resistenter Keime und die Zerstörung des körpereigenen Mikrobioms. Mit oft ungeahnten Folgen wie Sodbrennen, Fettleibigkeit oder Zuckerkrankheit. In einzelnen Kapiteln schlüsselt der Autor auf, welche Indizien und Studien jeweils für einen Zusammenhang mit antimikrobiellen Wirkstoffen sprechen.
Sodbrennen und Speiseröhrenkarzinome betreffen insbesondere Menschen, die nur eingeschränkt vom Magenbakterium Helicobacter pylori besiedelt sind. Bei Kindern führt die überbordende Antibiotikagabe zu einem gehäuften Auftreten von Asthma, denn sie greift nicht nur punktuell, sondern umfassend ins Immunsystem ein. Außerdem beeinflusst sie den Spiegel von Hormonen, die Hunger- und Sättigungsgefühle vermitteln, und trägt zusammen mit fett- und zuckerreicher Ernährung zur Adipositas-Epidemie und steigenden Diabetesprävalenz bei.
Dezimierung der nützlichen Untermieter
Durch die antibiotikavermittelte Vernichtung darmbewohnender Mikroben schwindet die Vielfalt unseres Mikrobioms, was bei vielen Menschen die Widerstandsfähigkeit gegenüber Infektionen herabsetzt. Gerade weil sich resistente Keime verbreiten, sieht der Autor hier die größte Gefahr: "So sehr ich mich wegen Gesundheitsproblemen wie Diabetes oder Adipositas sorge – der wichtigste Grund dafür, dass ich nun Alarm schlage, besteht in meiner Angst vor dem antibiotischen Winter." Er spielt hier auf das Szenario an, dass auf Grund zunehmender Arzneistoffresistenz für Erkrankungen, die sich derzeit noch problemlos behandeln lassen, bald keine wirksamen Medikamente mehr zur Verfügung stehen könnten.
Blaser differenziert erfreulich klar zwischen gesicherten, allgemein anerkannten Erkenntnissen und eigenen Theorien und Annahmen. Mehrfach warnt er vor dem Fehldeuten von Korrelationen als Kausalitäten. Doch selbst bei solch vorsichtiger Interpretation verdichten sich die Indizien deutlich, dass zu viele Antibiotika zur Verbreitung vieler Volkskrankheiten beitragen.
Ein besonderer Schwerpunkt des Buchs liegt auf Helicobacter pylori als warnendes Beispiel dafür, wie die Ausrottung eines körperbesiedelnden Bakteriums die Gesundheit negativ beeinflusst. In den entsprechenden Abschnitten merkt man deutlich, dass dies das Spezialgebiet und Herzensthema des Autors ist – auch, weil der Exkurs hier stellenweise zu lang und zu detailliert gerät. Im Gegensatz dazu fallen die Lösungsansätze am Schluss des Buchs etwas kurz aus. Blaser schlägt einerseits Veränderungen im Gesundheitssystem und der Tierzucht vor, zeigt aber auch individuelle Handlungsmöglichkeiten und neue Forschungsansätze auf.
Insgesamt präsentiert der Autor ein gut geschriebenes und eingängiges Buch, das den Spagat zwischen Fachsprache und Allgemeinverständlichkeit bewältigt. Dazu trägt der ausführliche Anhang bei, in denen Blaser Fachartikel zitiert und für interessierte Laien einordnet, was den insgesamt sehr fundierten Eindruck des Werks untermauert. Die Endnoten geben zudem einen interessanten Einblick in den Forschungsalltag – angefangen bei der schwierigen Finanzierung von Studien über den langen Weg bis zur Publikation neuer Ergebnisse bis hin zur fruchtbaren Kooperation mit anderen Wissenschaftlern.
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