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»Armut«: Weniger ist weniger

Matthew Desmond untersucht die in den USA weit verbreitete Armut. Er skizziert Lösungen des Problems, vermisst aber den politischen Willen, es wirklich anzugehen.

»Armut ist in der Stadt groß, aber die Faulheit viel größer.« In diesem Zitat des Reformators Martin Luther (1483–1546) klingt eines der größten Hindernisse für die Bekämpfung von Armut an: Vorurteile. Unterschiedlich verteiltes Vermögen ist ein Problem, das so alt ist wie die Menschheit. Ob zu Zeiten frühneuzeitlicher Feudalherrschaft, der industriellen Revolution oder heute: Immer lebten und leben Menschen in Armut, während andere ihren Wohlstand genießen. Besonders fällt Armut dort auf, wo es gleichzeitig ausgeprägten Reichtum gibt – heute etwa in den USA. Die Vereinigten Staaten haben das weltweit größte Bruttoinlandsprodukt – es übersteigt das des mehr als viermal so bevölkerungsreichen China um etwa 5,3 Billionen Dollar. Gleichzeitig lebt dort aber jeder Neunte in Armut, und 38 Millionen Menschen können ihre Grundbedürfnisse nicht aus eigener Kraft decken. Da stellt sich unweigerlich die Frage: Warum?

Ihr geht der US-amerikanische Soziologe Matthew Desmond nach und befasst sich so mit einem der drängendsten Probleme der sogenannten Leitnation des Westens. Einfache Antworten gibt es freilich nicht, Armut ist ein hochkomplexes Phänomen, zu dem viele einzelne Probleme, Hürden und Herausforderungen beitragen. In den USA sind laut Desmond vor allem Habgier, Machtstreben, systemische Fehler sowie Vorurteile beziehungsweise Rassismus für die anhaltende Armut verantwortlich. So verträten viele Politiker etwa den Standpunkt, dass Sozialhilfe dazu führe, dass es mehr arme Menschen gebe, da bei regelmäßiger Hilfe vom Staat niemand mehr arbeiten wolle. Das hier zugrunde liegende Vorurteil lautet natürlich, dass arme und/oder Menschen ohne Arbeit faul seien – ein Vorurteil, das sich in den USA häufig noch mit rassistischen Stereotypen verbindet. So nimmt die Mehrzahl der Amerikaner an, dass die meisten Sozialhilfeempfänger schwarz sind (was nachweislich falsch ist). Im Jahr 2021 dachte zudem noch jeder siebte Amerikaner, dass dunkelhäutige Menschen grundsätzlich faul seien. Kommen diese Annahmen – oft auch in unausgesprochener Form – zusammen, wird Sozialhilfe nachhaltig negativ besetzt. Luthers Vorurteile sind also fast 500 Jahre später in den USA in ähnlicher Form noch immer salonfähig – was möglicherweise eine späte Folge des spezifisch puritanischen Arbeitsethos vieler der ersten europäischen Einwanderer ist, das die amerikanische Gesellschaft bis heute prägt. In Argumenten wie diesem zeigt sich Desmonds Perspektive: Er versucht, den Blick von den Armen ab- und zu den Wohlhabenden hinzuwenden und so die Viktimisierung von Menschen, die unterhalb der Armutsgrenze leben, aufzubrechen.

Wohltaten des Staates – für Wohlhabende

Wenig überraschend sind es nämlich, so Desmond, die Reichen, die ihren Wohlstand maßgeblich staatlichem Handeln verdanken. Die Vereinigten Staaten haben, gemessen an der Einwohnerzahl, nach Frankreich den höchsten Sozialetat der Welt, finanzierten damit aber vor allem Projekte, die gerade nicht den Ärmeren zugutekommen: beispielsweise Bausubventionen für Eigenheime, Studienkredite oder geförderte private Rentenversicherungen. So seien in diesem Land zwar mehr oder weniger alle vom Sozialstaat abhängig, das obere 1 Prozent erhalte jedoch in Summe mehr Beihilfen und Steuervergünstigungen, als für Sozialausgaben der Mittelschicht aufgewendet wird, und doppelt so viel, wie die untersten 20 Prozent der Gesellschaft geltend machen. Auch hier zeige sich wieder das in den Köpfen der Amerikaner fest verankerte Prinzip der Meritokratie: Wer viel hat, hat viel dafür getan; wer wenig hat, tut zu wenig. Dass die tatsächlichen Vermögensverhältnisse aber maßgeblich durch ungerechte Verteilungsmechanismen entstehen, bleibe dabei unbeachtet.

Matthew Desmond belegt seine Zahlen sehr genau; der Anhang mit Quellen umfasst mit knapp 100 Seiten ein Drittel des gesamten Werks. Die empirische Sozialforschung, auf der das Buch zum größten Teil basiert, ist sein interessantester Aspekt, sind die Tatsachen zur Armut in den Vereinigten Staaten doch relativ bekannt. Ein Problem könnten deutsche Leser mit der Verwendung bestimmter Begriffe haben. So spricht Desmond im Kapitel »Wie wir von der Sozialhilfe abhängig wurden« sehr viel über die bereits genannten Steuererleichterungen, die aber nach deutschem Recht und Verständnis nicht zur Sozialhilfe zählen.

Es bleibt zu hoffen, dass der Autor mit seinem Buch einigen Lesern die Augen öffnet und er so dazu beiträgt, dass sich die Fronten von »Arm gegen Reich« hin zu »wir alle gegen Vorurteile und das System« verschieben. Wie nötig dies gerade in diesen politisch unsicheren Zeiten täte, dürfte jedem klar sein, der die aktuellen Entwicklungen verfolgt.

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