Zuckerberg statt Gutenberg
47 Zettaybte – so viele Daten sollen allein in diesem Jahr entstehen. Das entspricht etwa der Datenmenge, die man für die Digitalisierung aller Sprachen der Welt auf Audioformat (16 Bit) bräuchte. Der Medienwissenschaftler Martin Andree und der Datenexperte Timo Thomsen versuchen in ihrem Buch »Atlas der digitalen Welt«, das exponentiell wachsende digitale Universum zu vermessen.
Wie groß ist das Internet?
In vier faktengesättigten, mit Schaubildern und Grafiken angereicherten Kapiteln kartieren die Autoren dieses Terrain, das uns im Alltag so vertraut ist, in seiner Tiefe aber zuweilen wie eine ferne Galaxie wirkt. Wie groß ist das Internet? Wie teilt sich das digitale Universum auf? Was sind die Fixpunkte dieses Referenzsystems? Das sind die Leitfragen, denen sich Andree und Thomsen bei ihrer digitalen Erkundungstour widmen.
Schon nach ein paar Seiten Lektüre wird klar: Die großen Tech-Konzerne sind die großen Fixsterne des Informationskosmos, um das andere Webseiten wie Planeten und Monde kreisen. ADAC? Allianz? ARD? Bloß kleine Himmelskörper in der Umlaufbahn der Tech-Konzerne – was die Autoren sehr schön in einer Netzwerkanalyse visualisieren. Die GAFA-Konzerne (Google, Amazon, Facebook, Apple) verteilen über die Hälfte der Nutzungsdauer der Top-500-Plattformen im Netz.
Die Autoren erklären die Gründe der digitalen Konzentration (geschlossene Standards, Netzwerk-Effekte, Winner-takes-all-Märkte) und ihre Auswirkungen, zum Beispiel im Hinblick auf das Mediennutzungsverhalten. So entfällt mehr als die Hälfte der Nutzungsdauer (50,1 Prozent) audiovisueller Inhalte auf die Videoplattform Youtube.
Solche Konzentrationseffekte haben bereits zahlreiche Bücher als Thema, etwa Scott Galloways »The Four: Die geheime DNA von Amazon, Apple, Facebook und Google«. Insofern fügen Andree und Thomsen diesem theoretischen Hintergrund nichts Neues hinzu. Ihr Werk ist aber ohnehin empirisch ausgelegt: Die Autoren haben bislang unveröffentlichte Daten der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) basierend auf einer repräsentativen Stichprobe von 16 000 Nutzern aufbereitet. Davon profitiert das Buch in hohem Maße. Beispielsweise schlüsseln Andree und Thomsen nach Altersgruppen differenziert auf, wie lange Nutzer im Durchschnitt mit ihrem Endgerät auf einer Webseite bleiben und womit sie neben Musik und Nachrichten sonst noch ihre Zeit verbringen.
Das Buch verbleibt aber nicht auf einer deskriptiven Ebene. Die Autoren analysieren, wie sich mit dem Aufkommen sozialer Medien die Gesellschaft verändert und ein Hybrid von Privatheit und Öffentlichkeit entsteht: »Mit diesen neuartigen Öffentlichkeiten formatieren wir (…) die Fundamente unserer demokratischen Ordnung um – ohne dass wir momentan absehen können, wohin uns diese Reise irgendwann mal führen wird.«
Denn die Monopolbildung auf den digitalen Märkten ist nicht nur ein ökonomisches, sondern auch ein medienpolitisches und damit demokratisches Problem: Plattformen wie Youtube oder Facebook sind heute mächtige Player, die mit ihren geheimen Algorithmen bestimmen, was die Nutzer auf ihren Endgeräten sehen: Die Hälfte der US-Teenager bezieht mittlerweile Nachrichten von Youtube. Printerzeugnisse wie Zeitungen und Magazine spielen in dieser Alterskohorte kaum noch eine Rolle. Das hat Folgen: »Wenn wir analoge Medien durch digitale Medien ersetzen, dann ändern wir damit eben nicht nur unsere Medienwelt, sondern wir ändern damit auch unsere Welt insgesamt – weil wir nämlich keine andere Welt haben als diejenige, die durch die Realität der digitalen Medien erschaffen wird«, schreiben Andree und Thomsen.
Neben den (medien-)politischen Auswirkungen vermessen die Autoren auch die epistemologischen Deformationen, die mit der Digitalisierung einhergehen. Denn obwohl sich immer mehr Wissen anhäuft, mangelt es an Wissen über das Wissen: »Wir besitzen Milliarden verführerisch glitzernder Informationspartikel, aber uns fehlt oft der Zugang zu den Daten der Plattformen, die diese Medienrealität erst herstellen.«
Die Autoren sehen die Welt an einer Epochenschwelle, »in der wir uns endgültig verabschieden vom Zeitalter der analogen Massenmedien, die unser letztes Jahrhundert geprägt haben.« Mit dem Medientheoretiker Marshall McLuhan argumentieren die Autoren, dass wir in eine »neuartige Art von Galaxis« eintreten werden: »In wenigen Jahren wird unsere Medienwelt vollständig digitalisiert sein.« Zuckerberg- statt Gutenberg-Galaxis also.
Gewiss, in dieser Zeitdiagnose schwingt auch eine Portion Kulturpessimismus und Sozialromantik mit, die Sehnsucht nach einer Zeit, in der die (alte) Welt noch in klare Kategorien einzuordnen war. Doch um den Strukturwandel der Öffentlichkeit, Wirtschaft und Gesellschaft zu verstehen, kann es hilfreich sein, Analogien zu bilden. Die Digitalisierung ist in vielerlei Hinsicht »Neuland«. Andrees und Thomsens Buch ist das beste Teleskop, um diesen digitalen Kosmos zu erforschen.
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