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»Atlas der KI«: Ist KI weder künstlich noch intelligent?

Kate Crawford ergründet das Potenzial künstlicher Intelligenz als Machtinstrument. Ein wichtiger Beitrag zur Debatte um einen verantwortungsvollen Umgang mit KI-Anwendungen.

Einen Atlas kennen die meisten Menschen wahrscheinlich als Kartensammlung. Er bündelt zu einem geografischen Thema oder Gebiet Abbildungen, die jeweils unterschiedliche Arten von Informationen transportieren. Allerdings kann der Begriff »Atlas« auch metaphorisch verwendet werden. So nannte der österreichische Schriftsteller Christoph Ransmayr eine Kurzgeschichtensammlung »Atlas eines ängstlichen Mannes«. Aber was macht ein solches Werk zu einem Atlas? Die Analogie gründet hier in einer nicht ganz linearen Struktur: Eine Kurzgeschichtensammlung bietet keine zusammenhängende Story, sondern viele Ausschnitte und Aspekte eines Themas. Ähnlich wie im Atlas gruppieren sich die Erzählungen um zusammenhängende Topoi und wählen dafür immer wieder andere Blickwinkel.

Einen vergleichbaren Ansatz verfolgt auch Kate Crawford in ihrem »Atlas der KI«. Wie bei Ransmayr werden unterschiedliche Aspekte eines Themas – hier: der künstlichen Intelligenz – aufgegriffen. Sie sollen die Möglichkeit eröffnen, die »Welt neu zu lesen, disparate Teile auf andere Weise miteinander zu verknüpfen«.

Was hier metaphorisch als »Atlas« bezeichnet wird, erweist sich als eine typische postmoderne Dekonstruktion des Begriffs der »KI«. Ihr Leitthema ist, dass die KI eine »extraktive«, also »entziehende« Industrie sei. Mitnichten könne man die KI isoliert als technologisches Phänomen betrachten. Man müsse sie vielmehr im Kontext der Ressourcen sehen, die sie für Herstellung ihrer Komponenten und im Betrieb, aber auch mit Blick auf Daten und die Arbeit der beteiligten Menschen verschlinge. Künstliche Intelligenz wird also bei Crawford weniger als Technologie denn als sozio- und (macht-)politisches Werkzeug untersucht. Die Autorin sieht schon den Begriff »künstliche Intelligenz« als Teil einer Marketingstrategie. Dem setzt sie die aus technischer Sicht präziseren Begriffe »maschinelles Lernen« und »Large Language Model« entgegen und beschreibt die KI aus dieser Grundlage als industriellen Komplex.

Ist KI weder künstlich noch intelligent?

Nach einer Einleitung beschreibt Crawford in sechs Kapiteln die verschiedenen Implikationen einer global und wirtschaftlich genutzten KI, unter anderem mit Blick auf natürliche (Lithiumminen in Nevada) und menschliche Ressourcen (Arbeiter, die Datensätze für extrem niedrige Löhne einpflegen, um die KI »schlauer« zu machen). Ebenfalls kommt die Rolle der Daten und der teils problematischen Klassifikationspraktiken zur Sprache. Gegen Ende und vor der Coda und dem Anhang befasst sich der »Atlas der KI« mit den staatlichen und machtpolitischen Implikationen der KI.

Die Argumentation des Buchs gründet auf der Prämisse, dass die KI weder künstlich noch intelligent sei. Ein Produkt, das aus natürlichen und menschlichen Ressourcen entsteht, könne nicht in einem der Welt enthobenen Sinne »künstlich« sein. Und »Intelligenz« spricht Crawford Maschinen ganz grundsätzlich ab. Ein an keinen konkreten Körper gebundenes Phänomen könne per se keine Intelligenz entwickeln. Damit lehnt die Autorin den von René Descartes eingeführten Leib-Seele-Dualismus ab, demzufolge sich Bewusstsein (und somit Intelligenz) und Körper als voneinander getrennte Elemente betrachten lassen.

Die vielen richtigen Beobachtungen der Autorin werden in einfachem Stil erklärt, Vorwissen ist mithin nicht nötig. Zudem erleichtern die vielen Illustrationen und Schaubilder das Verständnis. Der »Atlas der KI« ist ein wichtiger Beitrag zur aktuell und sicher auch Zukunft heiß geführten Debatte um künstliche Intelligenz. Auch wenn es die Technikbegeisterung einiger dämpfen mag: Es ist wichtig, bei dieser neuen Technologie von Anfang an darauf zu achten, dass sie nicht zu einem Werkzeug von sich ohnehin verstärkenden Machtasymmetrien wird. Diese Einsicht zu begründen und zu illustrieren, ist das Verdienst dieses Buchs.

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