Was Karten über die Welt aussagen
Erinnern Sie sich noch an die Zeit, als es nicht selbstverständlich war, mit Hilfe von Navigationssystemen in den wohlverdienten Familienurlaub zu fahren? Während wir uns im gegenwärtigen Informationszeitalter beim Reisen und im globalen Handel auf die helfende Hand von Satelliten und GPS verlassen können, diente in den letzten Jahrhunderten vor allem das in Atlanten zusammengestellte Kartenmaterial der weltweiten Orientierung.
Während ein Atlas bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts im Grunde nicht mehr darstellte als bebilderte Seiten mit nüchternen Umrissen von Flüssen, Bergen, Straßen und Kontinenten, revolutionierte der 1838 erschienene »Physikalische Atlas« von Alexander von Humboldt und Heinrich Berghaus die moderne Kartografie. So visualisierte Berghaus in seinen Karten Humboldts jahrelang gesammelten Daten, um etwa Meeres- und Luftströme oder das Auftreten von Ebbe und Flut darzustellen. Auf diese Weise wurde nicht nur die Seefahrt, sondern auch das Potenzial von Atlanten allgemein völlig neu definiert: Indem man verschiedenste Daten in Karten und Abbildungen grafisch kombiniert, lassen sich bis dahin verborgene Muster visualisieren.
Mehr als nur Geografie
Aus diesem Grund präsentieren James Cheshire, Professor für Geografische Information und Kartografie am University College London, und der Grafikdesigner Oliver Uberti in ihrem »Atlas des Unsichtbaren« rund 60 ansprechende und leicht zugängliche Grafiken und Karten, die den Leserinnen und Lesern ganz im Sinne Humboldts diese verborgenen Muster sichtbar machen sollen: Inwiefern kann man mittels historischer DNA-Proben nachvollziehen, woher der Mensch ursprünglich kommt? Was verraten Unterseekabel über die moderne Kommunikation? Gibt es einen Zusammenhang zwischen stark befahrenen Schiffsrouten und einem erhöhten Blitzaufkommen entlang dieser Strecken? Und mit welchen Folgen des Klimawandels können wir bis zum Ende des 21. Jahrhunderts rechnen? Das sind nur einige der vielen interessanten Themen, mit denen sich Cheshire und Uberti in ihrem dritten gemeinsamen Werk beschäftigen.
Dabei gelingt es den Autoren auf optisch und textlich sehr ansprechende Weise, mehr als nur eine beliebige Aneinanderreihung interessanter Karten zu bieten: Durch die geschickte thematische Gliederung der Karten und Grafiken in vier Kapitel, die sich nichts Geringerem widmen als den großen Fragen der Menschheitsgeschichte (Woher kommen wir? Wer sind wir? Wie geht es uns? Wohin gehen wir?), spinnen Cheshire und Uberti einen roten Faden, dem man nur zu gerne folgt. Eingeleitet werden die einzelnen Kapitel von kurzen Essays, in denen sich die Autoren zwar gelegentlich etwas zu sehr im Detail verlieren, die aber dennoch gekonnt auf die jeweilige Thematik einstimmen.
Begleitet werden die Grafiken und Karten stets von kurzen und informativen Texten, die gezielt an die visuell dargestellten Muster heranführen, ohne den Fokus zu stark von diesen abzulenken. Glücklich ist in dem Zusammenhang die Entscheidung der Autoren, für die einzelnen Themen und die entsprechenden Illustrationen meistens nur eine (manchmal sogar ausklappbare) Doppelseite aufzuwenden, wodurch die rund 200 Seiten lange Ode an die Möglichkeiten der Kartografie tatsächlich auch für »Fachfremde« zu einem kurzweiligen Vergnügen werden kann.
Allerdings können die Autoren die schon auf der Titelseite versprochenen Karten und Grafiken, »die unseren Blick auf die Welt verändern«, nicht immer mit der gleichen Überzeugungskraft einlösen. So gibt es Darstellungen, die wenig überraschend offenlegen, dass die Zufriedenheit der Menschen in einem Land mit dem Pro-Kopf-Bruttoinlandsprodukt zusammenhängt. Oder Karten, die zeigen, dass verschiedene Künstler ihr größtes Werk mit unterschiedlichem Alter vollendeten und somit der Zeitpunkt, etwas »Großes« zu schaffen, individuell ist.
Diesen wenigen Karten mit eher geringerem Erkenntniswert stehen jedoch solche gegenüber, die etwa auf beeindruckende Weise zeigen, inwiefern Veränderungen globaler Lichtemissionen ins Weltall Rückschlüsse auf Urbanisierungsprozesse, die globale wirtschaftliche Entwicklung oder auch auf die Auswirkungen von Kriegen erlauben. Somit gelingt es den Autoren durch ihr Werk, eindrücklich zu zeigen, dass sich auch in einem ständig wandelnden Zeitalter der Digitalisierung der Blick in einen Atlas definitiv lohnen kann.
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