»Atomkraft – nein danke!«: Der lange Atem des Atomkraft-Widerstands
Irgendwie ist es kurios. Nach 40 Jahren wird das Endlager in Gorleben als geologisch ungeeignet erklärt. Sofort erklärt Bayerns Ministerpräsident Söder in der »Tagesschau«, der gesamte Freistaat sei ebenso wenig für eine Lagerung von Atommüll geeignet. Er warnt vor einer »enormen Verunsicherung im Land«, allein in Bayern wären immerhin acht Millionen Menschen von einer Endlagersuche betroffen. Man weiß dabei nicht so genau, wen oder was will er schützen? Das Bundesland vor den Folgen eines atomaren Lagers? Oder befürchtet der Ministerpräsident Proteste wie im niedersächsischen Wendland? Denn dort und anderswo gab es viele Widerstandsaktionen.
Gefärbte Autoren, aber sachliche Argumente
Im Sachbuch »Atomkraft, nein danke« bilden die Geschehnisse in Wendland einen Schwerpunkt, doch es führt ebenso den heftigen Protest in Bayern auf. Herausgeber des Buchs sind die Bürgerinitiative im Wendland ».ausgestrahlt« – eine bundesweite Anti-Atom-Organisation – sowie der Göttinger Arbeitskreis gegen Atomenergie. Also Akteure des Widerstands. Skeptiker mögen denken, die Texte können davon beeinflusst sein. Sind sie auch: Die Artikel sind engagiert geschrieben. Aber sie sind sachlich fundiert, die mitgelieferten Zahlen und Fakten sind korrekt wiedergegeben.
Die Chronik listet die Geschichte des Widerstands gegen Kernenergie der letzten 50 Jahren in Deutschland fast schon akribisch genau auf. Sie startet im Juni 1971 mit einem Eintrag über den geplanten und verhinderten Bau eines AKW in Breisach. Menschenketten mit 120 000 Teilnehmern, fetzige Festivals, aufgebaute Hüttendörfer oder der Bau einer Salzförderung, die Vorrang vor einem Endlager haben sollte: Menschen haben in den letzten 50 Jahren so einiges gegen atomare Anlagen unternommen.
Das Buch berichtet dabei nicht nur von den spektakulären, sondern auch von kleineren Aktionen, wenn etwa 50 Bäuerinnen mal wieder ihre Trecker quer stellten und Misthaufen auf die Straße schütteten. Es handelt auch von streikenden Schülern oder engagierten Hausfrauen. Einzelne Akteure werden in halbseitigen Porträts vorgestellt, so wie Adi Lambke, der Mann auf dem Trecker; eine der ersten Protestlerinnen wie Lore Haag vom Kaiserstuhl, Traute Kirsch aus Würgassen oder der Bauer Josef Maas. Ein paar Bekannte finden sich ebenso, wie Professor Jens Scheer, der Friedensforscher Robert Jungk oder der kürzlich verstorbene Umweltaktivist Jochen Stay.
Eingebettet in die Chronik sind verschiedene Texte, die sich mit Themen beschäftigen wie: die historische Entwicklung des Widerstands, die variierenden Positionen der Grünen, wie man ein Atomkraftwerk abreißt, wozu radioaktives Material nach dem Freimessen verwendet wird oder wie die Stromrebellen von Schönau ein Elektrizitätswerk übernehmen und als Erste nur erneuerbaren Strom anbieten.
Die Autoren lassen auch die militanten Aktionen nicht aus, wenn abgesägte Strommasten Menschen verletzten oder Polizisten angegriffen wurden. Sie berichten, wie die Gewaltfrage die Anti-AKW-Bewegung immer wieder gespalten hat. Ebenso schildern die Verfasser aber das massive Polizeiaufgebot, die teilweise Gasgranaten oder Hochdruckwasserwerfer einsetzen durften, und wie prügelnde Polizisten mit Knüppel und Hunden gewaltfrei Demonstrierende zum Teil schwer verletzten.
Das Besondere am Buch: Es dokumentiert das große Spektrum an vielfältigen Protestformen, die kleinen wie die großen, begleitet von vielen Fotos. Manch einer, der dabei war, findet sich vielleicht wieder. Die Texte, die rund Drittel des Bands ausmachen, sind verständlich geschrieben und zeigen, wie oft als sicher geltende Gesetze zügig geändert oder rebellische Landräte entmachtet wurden. Die Autoren berichten zudem über den aktuellen Stand der Endlagersuche und erörtern, ob Kernkraftwerke die Klimakrise verhindern könnten.
Ein Autor schreibt, das Buch solle unter anderem zeigen, dass »beharrlicher Widerstand (…) selbst gegen mächtige Interessen in Wirtschaft und Politik« Erfolg haben kann. Vielleicht weist der letzte Eintrag in der Chronik darauf hin, wer einen ebenso oder vielleicht sogar längeren Atem hat: Der im April 2022 veröffentlichte »Uranatlas« führt die weltweiten wirtschaftlichen Interessen am Uranabbau auf.
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