»Auf der Suche nach der geheimnisvollen Riesenqualle«: Kinder auf der Expedition ihres Lebens
Sie sind geheimnisvoll, längst nicht ganz erforscht, auf verstörende Weise schön und irgendwie auch unheimlich und ein bisschen eklig. Für die Forscherin Dr. Morley in Chloe Savages Bilderbuch sind Medusen aber noch viel mehr: Sie liebt Quallen über alles. Schon ihr ganzes Leben als Wissenschaftlerin träumt sie davon, die besonders rätselhafte und scheue arktische Riesenqualle zu finden. Das ist bisher noch niemandem geglückt. Seit Jahren bereitet sie eine Expedition zum Nordpol vor, um das Tier in seinem natürlichen Habitat entdecken, erleben und erforschen zu können. Endlich ist es so weit: Das Team ist heiß aufs Eis, das Schiff beladen, und die abenteuerliche Reise zum Polarkreis kann beginnen.
Der Forschungstrip gerät bald in vielerlei Hinsicht zu einem besonderen Erlebnis – obwohl sich die Riesenqualle nicht zeigt. Morley gleitet mit einer Herde von Narwalen um die Wette, sie staunt über Nordlichter, beobachtet Orcas und trifft auf Belugas. Dabei wachsen Morley und ihr Team immer enger zusammen. Man sammelt wichtige Messwerte und Proben, bis die Reagenzgläser qualmen, und genießt gemeinsam die überbordenden Mahlzeiten in der Kombüse. Tage und Wochen vergehen, doch von der Riesenqualle fehlt immer noch jede Spur. Irgendwann kann und will das Team nicht mehr, und die Rückfahrt wird geplant. Morleys Forschertraum scheint ausgeträumt. Doch gerade, als das Schiff wendet, sehen ihre müden Augen beim Blick zurück ein freundliches Quallengesicht aus dem Wasser auftauchen.
Das großformatige Bilderbuch wendet sich vor allem an Kitakinder. Es erzählt vordergründig von einem faszinierenden Quallengeschöpf und einer Wissenschaftlerin mit einer Mission. Tatsächlich geht es in der Story aber ums Durchhalten, um Mut, unstillbare Neugier und unerschütterlichen Forschergeist; nicht die schlechtesten Eigenschaften, die man Kindern auf ihrer Expedition ins Leben mit auf den Weg geben möchte. Die Geschichte eignet sich bestens zum Vorlesen, und man kann wunderbar miteinander sprechen, während sich die Kinder an den schönen, farbenprächtigen und detaillierten Illustrationen erfreuen können.
Beeindruckende Bäder in Blautönen
Und Gesprächsanlässe gibt es hier wirklich genug: Zur optischen Einstimmung in die Geschichte einer Forschungsreise zeigt uns eine übersichtliche Landkarte auf dem Vorblatt das Gebiet des Polarkreises mit seinen vielen geheimnisvoll klingenden Namen: Laptewsee, Longyearbyen oder Baffinbucht. Eine schöne Idee für den Einstieg sind auch die detailliert dargestellten Ausrüstungsgegenstände – vom Akku bis zum Thermomantel –, die sich auf dem Titelblatt ordentlich aufgereiht versammeln.
Danach nimmt die Reise zum Nordpol vor allem gestalterisch mächtig Fahrt auf: Chloe Savage zeichnet sie in stimmungsvollen, seitenfüllenden Illustrationen mit kräftigen Farben und schafft so auf jeder Seite eine eigene Atmosphäre. Dabei nehmen unsere Augen beeindruckende »Seh-Bäder« in verschiedenen Blautönen: dunkelblau bis schwarz sind die tiefen Wasserschichten, blaugrau schimmert die See bei Nacht, himmelblau strahlt das Wasser rund um Eisberge. Einen lebhaften Kontrast dazu bilden die leuchtenden Rottöne von Expeditionsschiff, Ausrüstung und Kleidung der Teammitglieder. Für mehr Unterscheidbarkeit innerhalb der dick eingemummelten Mannschaft sorgen witzige Einfälle: So trägt Dr. Morley immer auch ein grünes Kleidungsstück, und der Kapitän ist am gezwirbelten, tentakelartigen Bart erkennbar. Einige Illustrationen erinnern an die bei Kindern so beliebten Wimmelbilder und laden mit vielen Details zum genauen Hinschauen ein. Wie die Doppelseite, auf der wir dank Querschnittzeichnung tief in den Schiffsbauch blicken und so die verschiedenen Etagen mit ihren Abteilungen kennenlernen. Detailgenau schildert Savage auch die Gefühlszustände der Teammitglieder. Wir erleben, wie die Euphorie des Teams – anfangs noch bildhaft durch reich verzierte, opulente Mahlzeiten mit riesigen Torten symbolisiert – mehr und mehr einer unübersehbaren Enttäuschung weicht: bedrückte Gesichter, gerunzelte Stirnen, hängende Schultern und schwere Köpfe, die sich einschlafend auf Laptops neigen.
Keine Frage, die ausdrucksstarken Illustrationen von Chloe Savage sind das Herzstück des Bilderbuchs. Die Story selbst wird nur in ein paar Zeilen pro Seite erzählt. Gut so, denn das reizt Erwachsene wie Kinder dazu nachzufragen, eigene Theorien aufzustellen, die Geschichte miteinander weiterzuspinnen. Und natürlich ist das Buch eine Einladung dazu, die Antwort auf die Frage aller Fragen zu suchen: Gibt es die arktische Riesenqualle eigentlich wirklich?
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