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Raubbau an Mensch und Natur

Im 21. Jahrhundert scheint sich der Fortschritt selbst zu überholen. Man denke etwa an die Digitalisierung, die alle Lebensbereiche durchdringt und zunehmend den Alltag bestimmt. Oder an die Konsumwelt, die immer neue Produkte mit simulierter Relevanz anbietet. Dass diese absichtlich auf Kurzlebigkeit ausgelegt sind, kurbelt zwar die Wirtschaft an, ist ökologisch aber verheerend. Es gilt, eine wachsende Bevölkerung zu ernähren, die Gefahren des Klimawandels oder weltweiter Finanzkrisen einzudämmen.

Im "I.L.A. Kollektiv" engagieren sich kritische Wissenschaftler, darunter Volkswirtschaftler, Ökonomen, Politik- und Umweltwissenschaftler. I.L.A. steht für "Imperiale Lebensweise und Ausbeutungsstrukturen". Davon überzeugt, dass es mit unserem "guten" Leben auf Kosten Anderer – sprich: ärmerer Menschen und der Umwelt – so nicht weitergehen kann, möchten sie in diesem Buch aufzeigen, wie die derzeitigen Probleme entstanden sind und welche Lösungen es geben könnte.

Kolonialismus 2.0

Die Ursache der genannten Probleme sei – der Name ist Programm – eine imperiale Wirtschafts- und Lebensweise, heißt es in der Einleitung. Imperial, weil sie sich ständig ausbreite, andere Lebensweisen verdränge und dabei natürliche Ressourcen ungerecht verteile. Wie die Autoren in einem historischen Überblick zeigen, gibt es tatsächlich Parallelen zwischen dem Konsumliberalismus von Heute und dem Imperialismus von gestern. Deutlich wird, dass Ungerechtigkeiten schon immer vorwiegend die trafen, die wenig Vermögen und Macht besaßen oder wegen ihrer Herkunft benachteiligt waren. Als aktuellen Gewinner sehen die Autoren den so genannten globalen Norden, eine länderübergreifende Ober- und Mittelschicht mit übermäßigem Rohstoffverbrauch.

Zum Thema Digitalisierung meinen die Verfasser, die heutige vernetzte Umwelt sei einerseits praktisch und in vielerlei Hinsicht hilfreich – was sich in der Tat nicht bestreiten lässt. Andererseits weisen sie auf die Schattenseiten hin: wegfallende Arbeitsplätze, schwindende Privatsphäre, totale Überwachung und Technikabhängigkeit etwa. Nichtsdestoweniger gebe es positive Gegenentwicklungen, etwa die Idee der "Commons" (wie das Open-Source Betriebssystem Linux).

Im Zusammenhang mit Landwirtschaft und Ernährung sprechen die Autoren die traurige Kluft zwischen dem Überfluss Wohlhabender und der wachsenden Zahl Hungernder an. Sie decken auf, wie immer weniger Konzerne den Nahrungsmittelmarkt kontrollieren und Produktionskosten in Billiglohnländer auslagern. So bilde ein ausgeklügeltes Transportsystem die Infrastruktur, um Futtermittel aus Südamerika nach Europa und anschließend als abgepacktes Schweinefleisch nach China zu schicken, heißt es im Zusammenhang mit dem Fleischkonsum. Dabei würden kleinbäuerliche Strukturen zerstört, Land und Boden als Spekulationsobjekt gehandelt. Die Autoren verweisen exemplarisch darauf, dass Europa, allein um seinen Bedarf an Agrargütern zu decken, die Erzeugnisse von jährlich etwa 120 Millionen Hektar Land importiert. Dabei gehen sie auf wenig bekannte Details der internationalen Entwicklungspolitik ein, etwa öffentlich-private Partnerschaften (PPPs) mit Monsanto und anderen Unternehmen, oder die "New Alliance for Food Security and Nutrition", deren Mitgliedsfirmen Projekte mit staatlicher Unterstützung nach ihren Interessen gestalten können.

Immer krassere Reichtums-Schere

"Während 2010 388 Personen so viel Reichtum wie die ärmere Hälfte der Weltbevölkerung hatten, sind es 2017 nur noch 8 Männer" heißt es im Kapitel zur Finanzwirtschaft. Konzise Aussagen wie "Flugtickets sind billiger als Bahnfahrkarten" oder "Der Staat fördert den Flugverkehr mit 10 Mrd. Euro jährlich" beim Thema Mobilität bringen Probleme auf den Punkt und rütteln auf. Alle Lebensbereiche hingen mehr oder weniger vom globalen Transport ab, der dank verdeckter Subventionen und unfairer Praktiken enorm billig geworden sei. Transportflugzeuge flögen mit steuerfreiem Kerosin, Flughäfen zahlten keine Grundsteuer, Containerschiffe führen unter fremder Flagge. Die Folgen der Umweltverschmutzung äußerten sich außerhalb unseres Blickfelds etwa in schwindenden Regenwäldern, ölverseuchten Küstengewässern und ausgelaugten Böden.

Am Ende gehen die Autoren auf Gegenbewegungen und Lösungsansätze ein, die schon in den Kapiteln zuvor teils angesprochen werden. Das reicht von Bio- und Fairtrade-Produkten über fleischarme Ernährung bis zu CO2-Zertifikaten, Carsharing und staatlich geförderten Schienenverkehr. Hindernisse für einen sozial-ökologischen Wandel der Gesellschaft sehen die Verfasser in Interessenkonflikten und mangelnder Sensibilisierung bei Entscheidern, aber auch in der "Selbstoptimierung", dem Geiz und dem Herdentrieb der Bürger(innen). "Wer nicht fliegt, ist nicht normal" – in diesem Sinn gilt es als zeitgemäß, per Flugzeug unterwegs zu sein.

Altbundeskanzler und Wirtschaftswissenschaftler Ludwig Erhard hatte vor über fünfzig Jahren für eine soziale Marktwirtschaft plädiert, die sich frei entfalten kann, ohne dass sich die Politik einmischt. Die Autoren sehen dies gerade nicht als Lösung. Stattdessen brauche es eine gesellschaftliche Transformation, einhergehend mit der Bereitschaft, den eigenen Lebensstandard umzugestalten.

Als Leser(in) wünscht man sich, die Autoren hätten den existierenden Lösungsansätzen mehr Anerkennung geschenkt und entsprechende Gütesiegel nicht so schlecht gemacht. Auch die Tatsache, dass gewiss nicht alle Menschen eine Veränderung überhaupt wollen, kommt kaum zur Sprache. Trotzdem ist das Werk lesenswert.

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