»Auf Schwingen um die Welt«: Neue Bedrohungen für Zugvögel
Die Gefahren, denen Zugvögel ausgesetzt sind, haben sich in den letzten Jahrzehnten vervielfacht, verantwortlich dafür sind – natürlich – wir Menschen. Und weil die Flugrouten seit Jahrtausenden in der DNA der Vögel festgeschrieben sind, sind sie selten flexibel genug, um den Gefahren auszuweichen.
Scott Weidensaul beginnt seine Reise am Gelben Meer in China. Die schlammigen Küstenstreifen voller wirbelloser Kleinsttiere dienen seit jeher als weltweit wichtigster Rastplatz für Zugvögel. Nun aber hat China einen Großteil dieser bedeutenden Schlammflächen in Bauland verwandelt, und die dürftigen Naturschutzentscheidungen werden nicht von Biologen, sondern von ahnungslosen Bürokraten am Schreibtisch getroffen. Erst 2019 hat die UNESCO dieses Gebiet zum Welterbe erklärt und China so zum Schutz verpflichtet.
Ein anderes großes Problem stellen nachts beleuchtete Wolkenkratzer da, denn Zugvögel werden genauso magisch vom Licht angezogen wie Motten. Allein in New York sterben so jedes Jahr etwa 90.000 Tiere. Besonders gefährlich ist die seit 2002 jährlich stattfindende Veranstaltung »Tribute in Light«, die mit zwei riesigen Lichtstrahlen, die die Twin Towers symbolisieren, die 9/11-Opfer ehren soll. Das Problem ist, dass im September die Hauptreisezeit der Sperlingsvögel ist und diese sich verwirrt in den Lichtkegeln verfangen und keinen Ausweg sehen, bis sie erschöpft zu Boden sinken. Schließlich hat man sich darauf geeinigt, dass das Licht für kurze Zeit abgeschaltet wird, wenn sich mehr als tausend Tiere in dem Lichtkegel befinden.
Auch das unter anderem durch Pestizide verursachte Insektensterben beschleunigt den Rückgang des Vogelbestandes, denn Insekten sind die Hauptnahrungsquelle für Vögel.
Auch die Folgen, die der menschengemachte Klimawandel auf Vögel hat, werden im Buch geschildert: Vögel, die auf Sumpfwiesen angewiesen sind, sind besonders von Überschwemmungen betroffen, die auf den Klimawandel zurückzuführen sind. Und die Schneeeulen in der Arktis nisten nur, wenn es genügend Lemminge als Nahrung gibt. Die Lemminge wiederum benötigen für ihren Nachwuchs lockeren Schnee. Wärmere und feuchtere Winter führen so zu weniger Lemmingen und damit zu weniger Schneeeulen.
Die Wälder werden genauso wie die Küstenstreifen durch Bebauung und Zerstückelung zerstört, was wiederum die jahrtausendealten Routinen der Zugvögel durcheinanderbringt und die Artenvielfalt allgemein verringert.
Eine der größten Gefahren befindet sich ganz in der Nähe: in Südeuropa. Auf Zypern, in Frankreich und Italien werden immer noch Singvögel mit Netzen und Leimruten gefangen, um sie zu verspeisen. Vogelfang mit Leimruten ist seit 2021 zwar EU-weit verboten, wird in ländlichen Gebieten aber immer noch praktiziert. Der Autor ist auf Zypern mit Vogelschützern unterwegs, die in Guerilla-Aktionen Vögel befreien, Netze und Leimruten zerstören sowie heimlich Videos von Vogeljägern drehen und das Material der Polizei übergeben.
Aber nicht nur der reiche Westen macht sich schuldig. Die Maori in Neuseeland töten traditionell jedes Jahr 360.000 junge Sturmtaucher, und auch die einheimischen Jäger auf Karibikinseln stellen eine besondere Gefahr dar, denn dort ist der Artenschutz nicht so ausgeprägt wie auf dem Festland.
Aber auch andere, oft vor Jahrhunderten auf Schiffen eingeschleppte Tiere können sehr gefährlich ein. Weidensaul begleitet eine Charity-Exkursion reicher Vogelfreunde zu einer Insel namens Rat, um Gelder zu sammeln und um die Insel von ihren namensgebenden Ratten zu säubern. Für die Nager sind die Vögel eine leichte Beute: Denn diese haben den Instinkt, in jedem Fall auf ihrem Ei sitzen zu bleiben, um ihren Nachwuchs zu beschützen. So werden sie von Ratten lebendig gefressen anstatt wegzufliegen.
Außer über die zahlreichen Gefahren lernt man aber auch viel über die auf den ersten Blick absurde Biologie der Zugvögel. Zum Beispiel variieren die Größe und die Funktionsfähigkeit der Organe stark nach den Bedürfnissen. Vor einem Langstreckenflug schrumpfen sie, um Gewicht zu sparen, und im Gegenzug werden für den Winter Fett und Muskelmasse aufgebaut. Die Hoden der Männchen des Knutts, eines amselgroßen Strandläufers, schrumpfen während der Überwinterung in Australien auf winzige Größe, um im arktischen Brutgebiet auf tausendfache Größe anzuschwellen. Der Gesang wird dann zum hormonellen Zwang, wofür auch der Teil ihres Gehirns wächst, der für das Singen zuständig ist.
Neue Erkenntnisse ergeben sich durch immer feinere Trackingtechnologien: So können Geolokatoren an allen Vögeln angebracht und ihre Wege verfolgt werden. Die so identifizierten lebenswichtigen Rastplätze dienen zum Beispiel als Basisinformation für den Naturschutz.
Weidensaul war ursprünglich Zeitungsreporter und schreibt im klassischen Reportagestil. Er schildert seinen eigenen Werdegang vom Kind, das sich schon immer für Vögel begeistert hat, über den Moment, wo er beruflich mit einem Ornithologen zu tun hatte, der ihm später das Beringen von Vögeln beibrachte, bis zu seinen Reisen um die Welt für den Vogelschutz. So ist er immer mehr in die Rolle des Freilandforschers hineingewachsen. Jeder Ornithologe und jede Biologin werden mit Namen genannt und kurz skizziert. Zum Beispiel erwähnt er, dass der Bart eines Vogelschutzkollegen bei jeder Begegnung mehr graue Sprenkel aufweist.
Die Botschaft des Buches ist klar: Vogelschutz ist auch Menschenschutz. Wir leben alle auf einem Planeten, und von einem effektiven Schutz der Brut-, Rast- und Winterquartiere profitieren auch Menschen, die sich gar nicht für Vögel interessieren.
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