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Buchkritik zu »Auflösung der Natur Auflösung der Geschichte«

Spätestens seit breite Debatten über Nano- und Biotechnik, Stammzellenforschung und Embryonenschutz in den zuvor nur musischen Themen vorbehaltenen Feuilletons der Tagespresse stattfinden, wird kaum noch jemand bestreiten, dass naturwissenschaftliche Erkenntnisse auf ziemlich direktem Wege in das Denken der Literaten wie der Politiker eingehen. Dennoch ist eine kulturwissenschaftliche Studie wie die vorliegende, mit welcher der studierte Physiker Carsten Könneker in Germanistik promoviert hat, noch immer eine Rarität. Könneker weist nicht nur nach, dass wichtige deutschsprachige Romane der zwanziger Jahre von der zeitgenössischen "Revolution der Physik", also durch Relativitäts- und Quantentheorie, geprägt wurden; er zeigt auch an einer überwältigenden Vielfalt von Indizien, dass die tiefe Verunsicherung, die der Umsturz des klassischen Weltbilds der Physik im allgemeinen Bewusstsein auslöste, in Deutschland die Ausbreitung der Nazi-Ideologie erleichterte. Eine wichtige Rolle spielte dabei die populäre Person Albert Einsteins, dessen Theorie erst zu der Behauptung "Alles ist relativ" verballhornt und dann mit dem antisemitischen Klischee vom berechnend-zersetzenden "jüdischen Geist" belegt wurde. Denn nicht erst dann, wenn technische Anwendungen in den Alltag eindringen, wird Naturwissenschaft Teil der Kultur: "Wie gezeigt werden konnte", schreibt Könneker, "gingen im Gegenteil gerade von der Rezeption der physikalischen Theorien ganz entscheidende Impulse auf die Literatur, namentlich den Roman der Moderne aus." Die überraschende Unanschaulichkeit der modernen Naturwissenschaft hat Literaten, bildende Künstler und Musiker zu völlig neuartigen Formexperimenten inspiriert – und, wie Könneker zeigt, in Deutschland zwischen Weimar und "Drittem Reich" zu antimodernistischen Bewegungen mit letztlich entsetzlichen Folgen geführt. "Auflösung der Natur Auflösung der Geschichte" warf Gottfried Benn dem Weltbild der neuen Physik vor, als der Dichter in den dreißiger Jahren kurz, aber heftig mit den Nazis flirtete. In einigen seiner zahlreichen Einzeluntersuchungen scheint mir Könneker übers Ziel hinauszuschießen. Wollte Robert Musil (1880-1942) in seinem Epochenroman "Mann ohne Eigenschaften" wirklich die Kopenhagener Deutung der Quantenphysik literarisieren – der "andere Zustand" als Quantenzustand, "Möglichkeitssinn" und "essayistisches Leben" als Quantenwahrscheinlichkeit – oder nicht eher die allgemeine Methodik der exak-ten Naturwissenschaften? Hatte Bertolt Brecht in seinem Drama "Galilei" mit der Hauptfigur wirklich Einstein im Sinn? Dem Wert der Studie und ihrer umfassenden Perspektive tun solche Details freilich keinen Abbruch. Dass Könnekers Arbeit zum Modell weiterer Studien über die Wechselwirkung der ominösen "zwei Kulturen" wird, ist dringend zu wünschen.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 02/2002

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