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»Aufstieg der Abgehängten«: Gerechtigkeit ist möglich

Selten ist über Wirtschaftspolitik in so bestechendem Stil geschrieben worden. Auch die moralphilosophische Argumentation Paul Colliers hat Hand und Fuß.

Als am 3. Oktober 1990 die DDR der Bundesrepublik Deutschland beitrat, endete die politische und qua Mauer ganz reale Teilung Deutschlands. Gleichzeitig begann ein Prozess, der in vielerlei Hinsicht bis heute noch nicht abgeschlossen ist: die Angleichung der ökonomischen und sozialen Situation zwischen neuen und alten Bundesländern. Viele Maßnahmen wurden in den letzten Jahrzehnten ergriffen, um diese Entwicklung voranzubringen. Subventionen konnten Unternehmen dazu bewegen, Produktionsstätten aufzubauen, und die Einführung des Mindestlohns wirkte sich insbesondere in den neuen Bundesländern positiv auf das Einkommensniveau aus. Dennoch bestehen bis heute im innerdeutschen Vergleich deutliche Unterschiede, die den politisch Verantwortlichen Kopfzerbrechen bereiten. Besonders wirtschaftsschwache Regionen der östlichen Bundesländer werden in diesem Kontext häufig als »abgehängt« bezeichnet.

Um genau solche Regionen geht es dem britischen Wirtschaftswissenschaftler Paul Collier in »Aufstieg der Abgehängten«. Er erläutert nach einer Einleitung in zwei großen Teilen und insgesamt zwölf Kapiteln zunächst, warum einzelne Regionen als abgehängt gelten. Anschließend skizziert er, wie sie wirtschaftlich aufsteigen könnten, ohne dass das Wohl der Bevölkerung dabei aus dem Blick gerät. Collier ist Professor für Ökonomie an der Blavatnik School of Government der University of Oxford, wurde vielfach ausgezeichnet und gilt als führender Experte für die Wirtschaft von Entwicklungsländern. Sein Buch versteht sich explizit nicht als konkrete Handlungsanleitung, sondern eher als ein Leitfaden für Veränderungen.

Kontributive Gerechtigkeit

Zu Beginn argumentiert Collier leidenschaftlich gegen die Annahme, der Markt selbst baue solche ökonomischen Ungleichheiten quasi automatisch ab. Er nennt zahlreiche Beispiele für verpasste Chancen – etwa wenn Politiker der irrigen Meinung waren, dass in strukturschwachen Gegenden Grundstückspreise und Mieten fallen würden, dadurch Menschen dorthin kämen, an denen wiederum Unternehmen als potenzielles Personal oder Kundschaft Interesse hätten und daher dort Standorte aufbauen würden. Sie glaubten, ein gleichsam natürlicher Verteilungsmechanismus führe zwangsläufig zur Angleichung von Verhältnissen innerhalb eines Landes. Ebenso hält der Autor nichts vom noch immer verbreiteten Konzept des »Homo oeconomicus« – einem theoretischen Konstrukt der Wirtschaftswissenschaften, demzufolge menschliches Verhalten grundsätzlich auf Eigennutz ausgerichtet sei und auf rationalen Entscheidungen basiere.

Besonders interessant ist ein Abschnitt, in dem Collier die Veränderungen der Moralphilosophie in den letzten 70 Jahren beleuchtet und deren Auswirkungen auf wirtschaftspolitische Entscheidungen beschreibt. Er zeigt, dass die mitunter gerne als »Elfenbeinturm-Wissenschaft« abgetane Philosophie ganz reale Auswirkungen auf das Leben von Menschen haben kann – positive wie negative.

Auch wenn, so Collier, die Folgen praktisch gewordener Moralphilosophie im genannten Zeitraum in der Regel eher negative waren, gebe es doch auch positive Ansätze. Der Autor nennt hier das Konzept der kontributiven Gerechtigkeit des Philosophen Michael Sandel (geboren 1953). Es besagt, dass jeder Mensch dazu verpflichtet sei, einen Beitrag zur Gemeinschaft zu leisten, wenn andere dies auch tun. Dieser Ansatz ist theoretisch besonders ansprechend, da er sich im Einklang mit den jüngsten Erkenntnissen der Soziologie und auch der Evolutionsbiologie befindet, denen zufolge soziale Menschen evolutionär betrachtet im Vorteil sind. Der Staat müsse allerdings die Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass Menschen ihren Teil zum Gelingen des Ganzen beitragen können. Als Beispiel hierfür dient Collier die US-amerikanische »G. I. Bill of Rights« von 1944. Sie garantierte unter anderem jedem Teilnehmer des Zweiten Weltkriegs einen Universitätszugang und ermöglichte so Menschen, die einen besonderen Dienst geleistet hatten, eine neue, auf andere Weise produktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Paul Collier legt ein in bestechendem Stil geschriebenes Werk über Wirtschaftspolitik vor, das auf solidem moralphilosophischem Grund fußt. Er verfängt sich nicht, wie es vergleichbaren Werken oft unterläuft, in Statistiken und Zahlenspielereien. »Aufstieg der Abgehängten« ist jedem zu empfehlen, der sich mit der Geschichte und den Potenzialen strukturschwacher Gebiete befassen möchte.

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