Wissen ist Macht
Papier entzündet sich ab 233 Grad Celsius. Diese in Fahrenheit umgerechnete Temperatur wählte der US-amerikanische Schriftsteller Ray Bradbury als Titel für seine Dystopie, in der er das Leben in einem Staat beschreibt, der den Besitz und das Lesen von Büchern unter Strafe stellt. »Fahrenheit 451« stammt aus dem Jahr 1953: Gerade einmal 20 Jahre zuvor, am 10. Mai 1933, verbrannten deutsche Studenten unter den Augen der Weltöffentlichkeit auf Initiative der erstarkenden nationalsozialistischen Bewegung ausgewählte Bücher. Dazu gehörten weltbekannte Werke von Schriftstellern wie Bertolt Brecht, Erich Kästner, Heinrich und Klaus Mann und vielen mehr, die auf Grund ihrer Volkszugehörigkeit, ihres Lebensstils oder ihrer politischen Einstellungen von den Nationalsozialisten geächtet wurden.
Menschen manipulieren und unterdrücken
Die Berliner Bücherverbrennung erscheint uns beispiellos. Dabei ist sie das leider nicht, wie das Werk »Bedrohte Bücher« aufzeigt. Bibliothekar Richard Ovenden steht seit 2014 der Bodleian Library in Oxford vor, einer der ältesten Bibliotheken Europas, die sich auf den Namensgeber Sir Thomas Bodley (1545–1613) zurückführen lässt. Zu allen Zeiten, so der Archivar, haben Menschen versucht, Wissen unter ihre Kontrolle zu bringen, um es gezielt für sich zu nutzen und andere davon auszuschließen. Denn schon immer galt: Wer den Zugang zu Wissen hat, kann andere manipulieren und unterdrücken.
Seinen Streifzug durch rund 3000 Jahre Geschichte beginnt Ovenden in Alexandria, der ägyptischen Hafenstadt, in der Anfang des 3. Jahrhunderts v. Chr. die wohl berühmteste Bibliothek der Welt gegründet wurde. Vermutlich im Jahr 48 v. Chr. brannte sie vollständig ab. Ob sie als Kollateralschaden einer kriegerischen Handlung unterging oder ob gezielt Feuer gelegt wurde, ist noch immer unklar. Doch mit der Zerstörung der Bibliothek verschwand eine unschätzbare Anzahl an Textdokumenten für immer.
Im Unterschied dazu weiß man genau, dass zu späterer Zeit Bibliotheken gezielt in Brand gesetzt wurden, um Wissen zu zerstören. Beispiele hierfür sind die Library of Congress, die 1814 im Zuge der Eroberung von Washington durch gezielten Beschuss durch die britische Armee angezündet wurde, sowie die Zerstörung der bosnischen Nationalbibliothek 1992 durch die Serben in den Balkankriegen. In Größenordnung und Konsequenz beispiellos ist sicher die strategische Vernichtung des schriftlich festgehaltenen jüdischen Wissensschatzes. So haben die Nationalsozialisten nicht nur mehr als sechs Millionen jüdische Menschen ermordet, sondern auch deren Bücher beschlagnahmt, zweckentfremdet oder vernichtet – mit dem Ziel, die jüdische Kultur vollständig auszurotten.
Jedes Kapitel von »Bedrohte Bücher« erzählt die Geschichte eines Angriffs auf einzelne Werke oder ganze Archive, jedes enthält aber auch Geschichten von mutigen Menschen, die sich für den Erhalt von Wissen eingesetzt haben, oft unter Einsatz ihres Lebens. Auf diese Weise retteten sie unzählige Bücher aus brennenden Bibliotheken, Gettos oder dem Besitz feindlicher Staaten, um nach Krieg und Vernichtung den Grundstock einer neuer Identität oder eines neuen Nationalgefühls zu bilden.
Durch die Digitalisierung habe sich die Form von Wissen stark verändert, so Ovenden. Auch die Arbeit in Bibliotheken ändere sich dadurch. Doch noch immer – und vielleicht sogar noch mehr, vermutet der Archivar – ist Wissen verwundbar. Digitale Texte, WhatsApp-Nachrichten, Twittermeldungen: All das lässt sich mit einem Mausklick löschen, oft mit schwer wiegenden Konsequenzen, wenn es etwa um Aussagen von Politikern, Konzernen oder Lobbyisten geht. Der Autor plädiert deshalb im Abschlusskapitel für den Erhalt und den Ausbau von Bibliotheken. Denn nur sie, ist er überzeugt, können Wissen über Generationen bewahren, das für jede funktionierende Gesellschaft unverzichtbar ist und verfügbar sein sollte.
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