»Begegnungen mit Euklid«: Geschichten rund um Euklid
Über Euklid und die Entstehung seiner »Elemente« ist nur wenig bekannt. Vieles spricht dafür, dass Euklid das bis dahin entwickelte Wissen aufbereitet und in prägender Weise systematisch zu einem Lehrgang zusammengefasst hat. Über Euklids Vorgänger und deren Anteil an den 13 Büchern (Kapiteln) der »Elemente« können nur Vermutungen aufgestellt werden. Es hat sogar Spekulationen darüber gegeben, ob Euklid tatsächlich gelebt hat und ob sein Name nur für ein Autorenkollektiv steht.
Benjamin Wardhaugh kennt die Faktenlage und geht damit behutsam um, indem er wie ein Geschichtenerzähler beschreibt, was sich möglicherweise alles zugetragen hat. Der studierte Historiker und Autor von populären Schriften zu Geschichte, Mathematik und Musik, Benjamin Wardhaugh, hat 37 lesenswerte Episoden zusammengetragen, die alle mit Euklid zusammenhängen.
Er lässt den Leser die Entwicklung Alexandrias zum Zentrum der damaligen Welt erleben. Die berühmte Frage des Ptolemaios nach dem Königsweg zur Geometrie ordnet er angemessen als unterhaltsame Anekdote ein. Er berichtet über die Beiträge der Nachfolger Apollonius, Eratosthenes und über Hypsikles, dessen Ergänzungen später als Buch 14 der »Elemente« bezeichnet wurden.
Die Geschichte des wohl berühmtesten Lehrbuchs der Mathematik
Das Werk ist in vier große Teile gegliedert. Im ersten geht Wardhaugh auf die Geschichte des Textes der »Elemente« ein. Einen ersten Versuch, diese zu bearbeiten, machte Theon, Leiter des Museions in Alexandria, am Ende des 4. Jahrhunderts, als es offensichtlich bereits unterschiedliche Versionen des Textes gab. Er wählte die Fassungen aus, die ihm am geeignetsten erschienen, ergänzte Beweise, wenn ihm eine Begründung nicht vollständig erschien, stellte auch unterschiedliche Beweise nebeneinander, wenn er nicht entscheiden konnte (oder wollte), welcher ursprünglich von Euklid stammte.
Im Lauf der Jahrhunderte entstanden immer neue Fassungen. Aufträge an Kopisten wurden erteilt, vorhandene Texte abzuschreiben, teilweise mit, teilweise ohne ergänzende Kommentare – anfangs auf Papyrusrollen, ab dem 6. Jahrhundert dann auf Pergamentbögen, die als Kodex zusammengefasst wurden. Durch Irrtümer der Schreiber wurde manches durcheinandergebracht, Texte wurden unvollständig übernommen, Zeichnungen weggelassen, Kommentare irrtümlich in den Haupttext eingefügt. Dies alles wird lebendig durch die Beschreibungen des Autors, der schließlich ehrfurchtsvoll auf die wunderbare Gestaltung des Kodex von Arethas, Erzbischof von Caesarea, aus dem Jahr 888 eingeht.
Dabei liest man eine lange Reihe von Geschichten, in denen verschiedene Persönlichkeiten auftreten: al-Haddschadsch (Übersetzer des griechischen Textes ins Arabische), Adelard von Bath (Übersetzer dieses arabischen Textes ins Lateinische) und Erhard Ratdolt (erste Druckausgabe in Venedig) – Ratdolt druckt insgesamt mehr Exemplare, als zuvor durch Kopisten entstanden waren.
Im zweiten Teil des Buchs widmet sich der Autor den Euklid-Kommentaren des Neuplatonikers Proklos aus dem 5. Jahrhundert, der überzeugt war, die Mathematik »reinige das Denken«. Demnach würden durch das kritische Durcharbeiten der »Elemente« die geistigen Fähigkeiten geschärft. Weiter geht Wardhaugh auf den Versuch des jüdischen Philosophen Levi ben Gerson ein, die Formulierung des Parallelenpostulats zu verbessern; weiter auf den Jesuiten Christopher Clavius, den Verantwortlichen der gregorianischen Kalenderreform, der eine ausführlich kommentierte und ergänzte Fassung der »Elemente« herausgab, weswegen er von der Nachwelt als »Euklid des 16. Jahrhunderts« bezeichnet wurde. Durch Clavius' Schüler, den Jesuiten-Missionar Matteo Ricci, gelangte der Euklid-Text nach China, wo in Kooperation mit Xu Guangqi eine chinesische Version der ersten sechs Kapitel entstand. Clavius sorgte auch dafür, dass die Behandlung der »Elemente« in den von Jesuiten geleiteten Schulen und Hochschulen obligatorisch wurde. Erwähnt werden sollten hier auch Wardhaughs Erläuterungen zu Spinozas »geometrischer Methode« (more geometrico) in der Philosophie.
Im dritten Teil beschreibt der Historiker den vielfältigen Einfluss der »Elemente« auf Musik (Tonleiter), Vermessungswesen, Handwerk und Künste. Der vierte Teil des Buchs reicht von Mary Somerville (geborene Fairfax, eine gute Bekannte von Ada Lovelace), deren Eltern befürchteten, dass die Beschäftigung mit Euklid »den zarten weiblichen Körperbau belasten« würden, über Nikolai Lobatschewski, dessen Auseinandersetzung mit dem Parallelenaxiom zu einer nichteuklidischen Geometrie führte, bis hin zu Max Ernsts Gemälde »Euklids Maske«.
Zwei aufeinander folgende Abschnitte dieses Teils gehen auf Entwicklungen in den Ländern des britischen Empire ein: Im 19. Jahrhundert werden Euklid-Übersetzungen in den jeweiligen Sprachen der Kolonialgebiete (Sanskrit, Urdu, Hindi, …) als Teil der kolonialen Mission zum verbindlichen Unterrichtsstoff der Schulen; zu Beginn des 20. Jahrhunderts werden die »Elemente« als obligatorischer Prüfungsstoff an britischen Universitäten abgeschafft, da sie nicht dem Standard der modernen Logik entsprechen.
Nicht unerwähnt bleiben dürfen die beiden Geschichten über zwei Persönlichkeiten, denen die Euklid-Forschung viel zu verdanken hat: François Peyrard und Thomas Little Heath. Der erste nutzte während der napoleonischen Besetzung Italiens die Gelegenheit, 23 Handschriften aus italienischen Bibliotheken auszuleihen, darunter das Manuskript Nr. 190 der Vatikanischen Bibliothek, das wohl dem ursprünglichen Euklid-Text am nächsten kommt. Der zweite war ein leitender Beamter des britischen Finanzministeriums mit doppeltem Hochschulabschluss in alten Sprachen und Mathematik, der in seiner Freizeit die bis dahin fundierteste kommentierte Ausgabe der »Elemente« verfasste. Die letzte Geschichte dreht sich um das Weltraumprojekt, bei dem der Forschungssatellit den Namen »Euclid« erhielt.
Insgesamt sind die »Begegnungen mit Euklid« eine bereichernde und unterhaltsame Lektüre. Benjamin Wardhaugh hat einen lebendigen Schreibstil; für jede der 37 Geschichten darin findet der Autor einen angemessenen, stimmungsvollen Einstieg. Nicht alle Abschnitte des Buchs sind gleich spannend – aber das hängt sicherlich von den persönlichen Interessengebieten der Leser ab. Auf jeden Fall gibt das ausführliche Quellenverzeichnis genügend Anregungen, im Anschluss an die Lektüre eigene Recherchen durchzuführen.
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