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Wenn Ökologen den Wald vor lauter Bäumen nicht sehen

Ein Landschaftsökologe erklärt das Waldsterben und die wirklichen Gefahren für die Zukunft unserer Waldökosysteme.

In den 1980er Jahren sorgte das Waldsterben in Deutschland für Aufsehen, und jetzt, 40 Jahre später, sind viele Menschen wieder über den schlechten Zustand der heimischen Wälder beunruhigt. Mit plötzlichem und großflächigem Waldsterben steht Deutschland nicht allein da. Doch die Zusammenhänge sind weit komplexer und variabler als der damalige Fokus auf den sauren Regen vermuten lässt. In seinem Buch »Beim nächsten Wald wird alles anders« räumt der Landschaftsökologe Prof. Dr. Hans Jürgen Böhmer mit hartnäckigen Fehlurteilen auf und lenkt den Blick auf die Klimakrise, invasive Arten und strukturelle Probleme im Forstmanagement und in der Ökologieforschung.

Ausgebliebene Apokalypse

»Was ist eigentlich aus dem Waldsterben geworden?« Diese an ihn gerichtete Frage, so Böhmer, habe letztlich zu dem aktuellen Buch geführt. Denn die in den 1980er Jahren prognostizierte Apokalypse der Wälder ist bekanntlich ausgeblieben. Grund genug, das damalige, aber auch andere Waldsterben in der Welt, die zu ähnlichem Pessimismus führten, mit dem heutigen Wissen zu betrachten. Sein Fazit nimmt der Autor schon im Vorwort vorweg: »Dies ist kein Weltuntergangsbuch, und insbesondere auch kein Walduntergangsbuch.« Vor Optimismus – insbesondere fürs Forstwesen – sprüht das Werk jedoch ebenso wenig, so viel sei verraten.

Fachkundig und leicht verständlich trägt der Ökologe zusammen, was seine Fachrichtung seit den frühen 1980er Jahren über das Waldsterben herausgefunden hat. Er sucht nach Gemeinsamkeiten mit einem Waldsterben auf Hawaii, wo er selbst intensiv geforscht hat. Hier wie dort und auch anderenorts waren schnell naheliegende Erklärungen gefunden – die sich später zwar als beteiligte Faktoren erwiesen, aber nicht als Hauptursache. Mal sei es saurer Regen, der das Fass zum Überlaufen bringt, mal ein Schadpilz, mal das natürliche Lebensende einer großen zeitgleich entstandenen Baumkohorte. »Waldsterben« und »neuartige Waldschäden« seien daher »irreführende Sammelbegriffe für ungefähr zeitgleich ablaufende, regional allerdings sehr unterschiedliche Typen von Baumerkrankungen«.

Trotzdem verbindet die Phänomene eine meist schon länger unentdeckt wirkende Gemeinsamkeit. Böhmer zufolge sind es fast immer veränderte Niederschlagsmuster – extreme Dürren oder manchmal auch zu viel Nässe –, an die bestimmte Baumarten nicht angepasst sind. Bei genauem Hinsehen sterbe nicht jeder Wald, sondern große Populationen bestimmter Arten. Besonders groß sei diese Anfälligkeit in Forsten, in Deutschland beispielsweise in Fichtenwäldern, da Fichten ihre natürliche Heimat eigentlich erst oberhalb von 600 Höhenmetern haben. Der Autor spricht daher auch von »Forststerben«, weil naturbelassene Wälder in Deutschland weit weniger betroffen sind. »Der anhaltende Glauben an den sauren Regen als Auslöser des Waldsterbens ist ein zweischneidiges Schwert«, kritisiert Böhmer. »Einerseits sensibilisiert er für die ernst zu nehmende Problematik von Luftschadstoffen, andererseits verstellt er den Blick dafür, wie lange schon die Folgen der Erderwärmung viele Wälder unter Stress setzen und wie lange schon wir uns um einen angepassten Waldumbau hätten kümmern können und sollen.«

Seine Aussagen belegt der Ökologe stets durch eigene und fremde Forschung. Das gilt auch für den zweiten Teil des Werks, in dem er sich mit der Frage beschäftigt, wohin sich der Wald verändert. Dabei betont Böhmer mehrfach, auch so genannte Waldsterben gehörten zu den natürlichen Lebenszyklen eines Walds – bloß seien die Zeiträume, auf die wir Menschen schauen, oft zu kurz, um das wahrzunehmen. Viele Wälder haben sich in den Jahren und Jahrzehnten nach einem Waldsterben auf natürliche Weise zu regenerieren begonnen.

Wie das Buch allerdings auch aufzeigt, schädigt der Klimawandel die Wälder in einer Häufigkeit und Intensität, die dazu führen, dass sich die Ökosysteme in ihrer Zusammensetzung verändern – mit unbekannten Folgen. »Alle Daten deuten darauf hin, dass bei erwartbaren häufigeren Dürren in der Zukunft der Wassermangel in den Landschaften länger anhält und dann irgendwann keine ausreichenden Erholungsphasen für die Bäume mehr stattfinden.« Zusätzlich erleichtert der Klimawandel das Eindringen invasiver Arten, die in einem geschwächten Ökosystem schnell zur dominierenden Art werden und das etablierte Gleichgewicht zerstören können. Ein gutes Forstmanagement sollte daher auf einheimische, trockentolerante und an den jeweiligen Standort angepasste Arten setzen, lautet nur einer der Tipps, die der Ökologe präsentiert.

Böhmer beendet sein Buch mit einer Kritik am Wissenschaftssystem. Gerade Ökologie verlange, sich intensiv mit den jeweiligen Ökosystemen zu befassen und sich lange darin aufzuhalten. Viele Publikationen in kurzer Zeit – und damit wissenschaftliches Renommee nach heutigem Maß – ließen sich so nicht erzielen. Folglich würden wichtige Projekte niemals unternommen, wenn sie zu aufwändig erscheinen. Und der Fokus auf englischsprachige Datenbanken führe dazu, dass Forschung auf Deutsch oder Französisch vergessen werde, wodurch Ressourcen in die Erforschung von Fragestellungen fließe, die schon vor 10 oder 20 Jahren beantwortet wurden.

Unterm Strich bleibt ein gut lesbarer, erhellender und aus der Praxis gespeister Einblick in die komplexe Ökologie von Wäldern mit Sensibilität auf der einen und Resilienz auf der anderen Seite. Ob die Kapitel über invasive Arten – ein Steckenpferd des Autors – und den Wissenschaftsapparat so lang hätten ausfallen müssen, kann man hinterfragen. Der Bezug ist jedenfalls gegeben, und aufschlussreich sind sie durchaus.

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