»Beklaute Frauen«: Frauen und ihre vergessenen Leistungen
Frauen, die Bahnbrechendes geleistet haben, aber trotzdem in Vergessenheit geraten sind, werden in diesem Buch in ihrem gesellschaftlichen Kontext betrachtet. So behandeln die sechs Kapitel die Rolle dieser besonderen Frauen als Bürgerinnen, in der Ehe und bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Schon an der Französischen Revolution waren Frauen beteiligt; etwa Olympe de Gouges, die gefordert hatte, auch die Gleichstellung der Frau in die Erklärung der Menschenrechte aufzunehmen. Über 400 Seiten widmet Schöler interessanten Fakten zur Teilnahme von Frauen an Kriegen. So erfährt man beispielsweise, dass sich als Männer verkleidete Frauen den Befreiungskämpfern der Ungarischen Revolution gegen die Habsburgerherrschaft anschlossen. Im Ersten Weltkrieg kämpften einige tausend Frauen. Im Zweiten Weltkrieg dienten mehr als eine Million Frauen bei den verschiedenen Streitkräften. Und die »Mujeres Libres«, die »Freien Frauen«, eine feministisch-anarchistische Frauengruppe, waren im Spanischen Bürgerkrieg aktiv. Sie alle fanden historisch wenig Beachtung.
Außerdem präsentiert die Autorin zahlreiche außergewöhnliche Leistungen von Frauen, die nicht wie jene der männlichen Kollegen honoriert und wahrgenommen wurden beziehungsweise werden. Ein prominentes Beispiel für eine »übergangene« Frau ist die Molekularbiologin Rosalind Franklin, ohne deren röntgenkristallografische Arbeit und DNA-Aufnahmen die Entdeckung der Doppelhelix-Struktur kaum möglich gewesen wäre. Die Physikerin Lise Meitner, die den theoretischen Hintergrund zur Kernspaltung lieferte, erhielt nie den Nobelpreis. Auch die Entdeckerin des ersten Pulsars, Jocelyn Bell Burnell, reiht sich in die Liste der »Übergangenen« ein: Obwohl sie die pulsierende Radioquelle entdeckt hatte, erntete vor allem ihr Doktorvater die Lorbeeren.
Dass Meitner und Bell Burnell bei der Vergabe der Nobelpreise leer ausgingen, wurde schon von Zeitgenossen kritisiert – ohne Folgen. Und Rosalind Franklin war zum Zeitpunkt der Auszeichnung ihrer männlichen Kollegen bereits verstorben – und posthum wird ein Nobelpreis nicht verliehen.
Völlig anders entwickelten sich die Biografien der Chemikerin Clara Immerwahr, der ersten Doktorin Deutschlands in diesem Fach, und der Physikerin Mileva Marić. Für beide Frauen wurde die Verbindung mit ambitionierten Ehemännern aus dem eigenen Fachbereich zur persönlichen Tragödie. Clara Immerwahr schloss zwar ihr Studium ab, konnte dann aber nicht als Wissenschaftlerin Fuß fassen, da sie in die Rolle der Ehefrau und Mutter gedrängt wurde. Mileva arbeitete zwar während des Studiums eng mit ihrem Mann Albert Einstein zusammen, doch auch für sie stellten Ehe und Mutterschaft eine Zäsur dar.
Die verwehrte Bezahlung
Leonie Schöler beleuchtet immer wieder die Beziehung zwischen Männern und Frauen, nicht nur die Paarbeziehungen, sondern auch Vater-Tochter-Konstellationen. So beschreibt sie die Beziehung von Karl Marx zu seinen Töchtern, insbesondere zu Eleanor. Sie konnte sich ihr ganzes Leben lang nicht richtig vom Vater emanzipieren, da sie zuerst als eine Art Sekretärin und später als Nachlassverwalterin tätig war – selbstverständlich ohne Bezahlung. Das Thema ausbleibender Bezahlung zieht sich durch das gesamte Buch. Frauen wurden nicht nur ihrer Sichtbarkeit und der Möglichkeiten zur Selbstverwirklichung beraubt; auch das Geld, das sie hätte unabhängiger machen können, wurde ihnen nur allzu oft verwehrt.
Auch in der Kunst wurden Frauen ihre Werke genommen: Sie wurden oft nicht einfach nur vergessen, sondern gar als jene von Männern ausgegeben. Dies wird im Buch am Beispiel von Lucia Moholy gezeigt, deren Fotografien sich Walter Gropius aneignete. Erst nach einem langen Rechtsstreit wurden sie der Besitzerin zurückgegeben, wobei der Großteil der Negative bis heute als verschollen gilt.
In der Literatur verbargen viele Autorinnen ihre wahre Identität hinter männlichen Pseudonymen, so wie es die berühmten Brontë-Schwestern taten, die ihre Werke als »Currer, Acton und Ellis Bell« veröffentlichten. Und immer wieder wurden Frauen auch ihrer Gedanken beraubt, die in den Werken männlicher Autoren aufgingen; so hatten Elisabeth Hauptmann, Margarete Steffin und Ruth Berlau großen Anteil an den Dramen von Bertolt Brecht, wurden aber nie als Mitautorinnen genannt.
Insbesondere im letzten Drittel des Buchs entwickelt sich die historische Rekonstruktion weg von konkreten Frauen hin zu einer generellen Gesellschaftskritik. Schöler greift dabei aktuelle Themen auf, so zum Beispiel die Algorithmen, die etwa soziale Medien nutzen, und fragt sich, wie diese neuen Technologien und Möglichkeiten Frauen womöglich wieder in den Hintergrund drängen könnten.
Es steht außer Frage, dass sich Männer über eine lange Zeit an den Errungenschaften von Frauen bereichert haben. Dennoch wirkt die Erzählweise Schölers ab etwa der Hälfte des Buches etwas ermüdend, und man wünscht sich als Leser einen deutlicheren Fokus auf die »beklauten Frauen«, die der Titel verspricht. Denn von ihnen gibt es leider sehr viele.
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