Knobelaufgaben für Fortgeschrittene
Kann eine Mücke einen Elefanten aufhalten, der vor eine Wand zu laufen droht? Im Prinzip ja. Man muss nur ein paar Idealisierungen akzeptieren, die zwar fern der Realität, aber unter Physikern durchaus beliebt sind. Beide Tiere sind starre Körper, sie bewegen sich reibungsfrei entlang der x-Achse, und wenn sie aufeinandertreffen, tun sie das perfekt elastisch, das heißt, Gesamtenergie und -impuls bleiben erhalten.
Mücke gegen Elefant
Der Elefant läuft auf die Wand zu und stößt auf die Mücke, die bis dahin in Ruhe war. Das bremst seinen Schwung zwar nur geringfügig, aber die Mücke prallt mit hoher Geschwindigkeit auf die Wand, wird dort ebenfalls elastisch reflektiert, prallt wieder auf den Elefanten, und so weiter. Auf die Dauer gehen immer mehr Energie und Impuls auf die immer wilder oszillierende Mücke über, bis ab einem bestimmten Zeitpunkt der bisherige Film rückwärtsläuft. Die Geschichte endet damit, dass der Elefant den Rückzug antritt, während die Mücke sich auf ihrer ursprünglichen Position zur Ruhe setzt. Wenn der Elefant – sagen wir großzügig zehn Tonnen – und die Mücke – ein Milligramm – ein Massenverhältnis von 1010 zu 1 haben: Wie oft muss die Mücke einen Aufprall auf den Elefanten oder auf die Wand erdulden?
Die Antwort ist ebenso überraschend wie das Szenario selbst: Es sind 314 159 Kollisionen. Aber wie kommt die Ziffernfolge der Kreiszahl π in die Lösung?
Während das Problem in eine paar Zeilen beschrieben ist, brauchen Daniel Velleman und Stan Wagon für die ausführliche Diskussion der Lösung knapp sechs Seiten. Das Muster zieht sich durch das ganze Buch: Die 105 Aufgaben finden auf 46 Seiten Platz, aber die Lösungen nehmen 230 Seiten in Anspruch, und zwar in dem wortkargen und informationsreichen Stil, der in der Mathematik üblich ist.
Wagon stellt seit 1993 seinen Studenten am Macalester College in St. Paul (Minnesota) jede Woche eine Knobelaufgabe; das vorliegende Buch ist nach »Which Way did the Bicycle Go?« das zweite, das aus dieser Problemsammlung entstanden ist. Sein Koautor Velleman, wie Wagon inzwischen im Ruhestand, war Professor am Amherst College in Massachusetts. Beide Verfasser wenden sich mit ihren Aufgabenstellungen an Studienanfänger; und in der Tat sind zum Lösen nur Highschool-Kenntnisse erforderlich. Ein deutsches Abitur genügt für die meisten Probleme.
Ausgerechnet das titelgebende Problem fällt aus diesem Rahmen. Kann man mit einem Fahrrad so über matschigen Untergrund fahren, dass die Spur des Hinterrads genau in der des Vorderrads verläuft, so dass sie mit der eines Einrads verwechselt werden kann? Die Antwort lautet Ja. Doch um etwas anderes zu konstruieren als die triviale gerade Linie, muss man tief in die Trickkiste der Analysis greifen. Dort findet sich eine unendlich oft differenzierbare Funktion, die mitsamt allen Ableitungen im Nullpunkt den Wert null annimmt, im Übrigen hingegen nicht gleich null ist. Die liefert das Rohmaterial für das erste Stück vom Weg des Vorderrads. Den Rest liefert eine Differenzialgleichung; aber das Ergebnis ist ein derart wilder Hampelpfad (siehe Titelbild), dass ein echter Radfahrer ihn kaum bewältigen könnte – und obendrein praktisch nicht vom Fleck käme.
Ein Teil der Aufgaben ist aus diversen nationalen Mathematik-Olympiaden entnommen. Bei diesen Wettbewerben stehen den ohnehin ungewöhnlich begabten Teilnehmenden mehrere Stunden pro Problem zur Verfügung. Ganz so schlimm ist es in diesem Buch meist nicht; aber mit meiner Standard-Herangehensweise – ich denke scharf über die Aufgabenstellung nach, dann habe ich eine Lösungsidee, und die zehn möglichen Einzelfälle auszuarbeiten habe ich keine Lust mehr – bin ich regelmäßig gescheitert.
Dafür bietet die Lösung ebenso regelmäßig eine Überraschung und löst damit das Versprechen aus dem Klappentext ein. Es ist einfach unglaublich, welche Strategien die Gefangenen sich ausdenken können, um bei den sadistischen Spielen ihrer Wärter – »du darfst 50 von 100 Schließfächern öffnen; wenn das mit deinen Sachen darunter ist, kommst du frei« – ihre Gewinnchancen zu maximieren. Zu allem Überfluss kann man das Lösungsprinzip auch für eine Variante des berüchtigten Ziegenproblems nutzen.
Und wie war das mit Mücke und Elefant? Die einzigen beteiligten Energien sind die Bewegungsenergien der Beteiligten, für sie gilt die Formel E = mv2/2, und deren Summe bleibt erhalten. Man wählt die Maßstäbe für die beiden Geschwindigkeitskoordinaten so, dass die (sehr unterschiedlichen) Massen herausfallen. Dann liegen alle Zustände des Elefant-Mücke-Systems auf einem Kreis. Für die Berechnung des Impulsaustausches ist es zweckmäßig, als Kreisradius die Wurzel aus dem Massenverhältnis zu wählen. Unter dieser Voraussetzung liegen die Punkte zu aufeinanderfolgenden Kollisionen gerade eine Einheit auf dem Kreisumfang auseinander. Nach einer halben Umrundung ist Schluss: Das macht π mal Wurzel aus 1010 = 314 159 Kollisionen. Schon überraschend.
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