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Schattenseiten der Digitalisierung

Politikwissenschaftler Eric Mülling legt eine Doktorarbeit darüber vor, wie sich Big Data auf den zivilen Protest auswirkt.

Mit dem Siegeszug des Internets verknüpfte sich einst die Hoffnung, es werde eine transnationale Cyber-Agora schaffen und die Autokraten aus ihren Palästen fegen. Das World Wide Web, dessen Freischaltung 1993 – zwei Jahre nach dem Zerfall der Sowjetunion – erfolgte, sollte die Demokratisierung beschleunigen. Der Internetpionier John Perry Barlow postulierte 1996 in seiner »Unabhängigkeitserklärung des Cyberspace«: »Regierungen der industriellen Welt, ihr müden Giganten aus Fleisch und Stahl, ich komme aus dem Cyberspace, der neuen Heimat des Geistes. (…) Wo wir uns versammeln, besitzt ihr keine Macht mehr.«

Von diesem Aufbruchsgeist ist nicht viel übrig geblieben. Autoritäre Regime zensieren das Netz, Technologiekonzerne überwachen Nutzer, Meinungsroboter torpedieren den politischen Diskurs. Ist das Internet statt eines Ermächtigungswerkzeugs vielleicht das genaue Gegenteil davon, nämlich ein Kontrollmittel?

Gewaltfreier Protest

Der Politikwissenschaftler Eric Mülling versucht, das in seiner Dissertation »Big Data und der digitale Ungehorsam« zu beantworten. Er stützt seine Untersuchung auf verschiedene Konzeptionen des Begriffs »Ungehorsam«, unter anderem die des amerikanischen Schriftstellers Henry David Thoreau (1817-1862), und orientiert sich dabei auch am deutschen Diskurs. Der zivile Ungehorsam, schreibt Mülling, ziele erstens auf eine »Änderung von als ungerecht empfundenen Gesetzen« ab, habe also klar eine normative Stoßrichtung. Zweitens strebe er eine »Sichtbarmachung von Zivilitätsdefiziten« an, indem er an den Gerechtigkeitssinn der Bürger appelliere. Drittens sei kennzeichnend, dass sich Ungehorsam gewaltfrei vollziehe.

Auf dieser theoretischen Grundlage entwickelt Mülling verschiedene Thesen, zum Beispiel »Digitaler Ungehorsam entpolitisiert politisierte Fragen« oder »Big-Data-Analysen festigen den Status quo einer Zivilgesellschaft«. Im empirischen Teil des Buchs versucht der Autor, diese Thesen anhand von Experteninterviews zu prüfen. Er spricht hierzu mit Protestakteuren, unter anderem mit Daniel Domscheit-Berg, dem ehemaligen Sprecher der Enthüllungsplattform Wikileaks, sowie dem Journalisten Markus Beckedahl von netzpolitik.org. Die transkribierten Interviews wertete er anschließend anhand bestimmter Kategorien aus.

Müllings Fazit fällt ambivalent aus. Die Interviewpartner verweisen einerseits auf die negativen Auswirkungen von Big Data, etwa die Analyse von Telekommunikationsdaten im Rahmen der Vorratsdatenspeicherung oder die im öffentlichen Raum installierten Überwachungstechnologien wie die Gesichtserkennung. Diese seien dem zivilen Ungehorsam abträglich, denn Big Data schränke Aktivisten ein und kompromittiere die vertraulichen Grundlagen digitalen Protests. »Die in Algorithmen eingeflossenen Annahmen, die gebildet sind an der gegenwärtigen Mehrheitsmeinung, stabilisieren den Ist-Zustand einer Gesellschaft«, analysiert der Politologe. Protest könne sich nur schwer bilden, wenn er ständigem Konformitätsdruck ausgesetzt sei.

Zugleich aber provozierten ebenjene datenanalytischen Prognosetechniken, mit denen menschliches Verhalten vorhergesagt werden soll, die digitalen Aktivisten dazu, ihre Appelle an die Mehrheitsgesellschaft zu richten. Big Data sei also sowohl Blockierer als auch Anstifter des digitalen Ungehorsams.

Der Autor hat eine theoretisch fundierte, kenntnisreiche und methodisch saubere Dissertation vorgelegt, die den Lesern die politische Dimension des Datensammelns vor Augen führt und von den Prüfern zu Recht mit der Bestwertung »summa cum laude« ausgezeichnet wurde. Mülling hat mehrere Jahre an der Schnittstelle von Informatik und Politikwissenschaft geforscht – ein Feld, das bislang leider kaum bestellt ist und mehr solcher Arbeiten benötigt. Im theoretischen Teil wären noch etwas mehr Verweise auf Nachbardisziplinen wie die Medienwissenschaft wünschenswert gewesen, wo der italienische Medientheoretiker und Philosoph Matteo Pasquinelli mit seinem Aufsatz zur »Gesellschaft der Metadaten« ein Grundlagenkonzept erarbeitet hat. Auch das Konzept des digitalen Ungehorsams wirkt in der Gesamtschau etwas unterspezifiziert. Müllings Dissertation ist dennoch ein wichtiger Debattenbeitrag, der sich wohltuend vom Jargon der Politikwissenschaft abhebt und einem interessierten Fachpublikum empfohlen werden kann.

Hinweis der Redaktion: »Spektrum der Wissenschaft« und Springer Science+Business Media gehören beide zur Verlagsgruppe Springer Nature. Dies hat jedoch keinen Einfluss auf die Rezensionen. »Spektrum der Wissenschaft« rezensiert Titel aus dem Springer-Verlag mit demselben Anspruch und nach denselben Kriterien wie Titel aus anderen Verlagen.

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