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»Bin ich normal?«: Zweifelhafte Normalität

Die Autorin beschreibt, wie gesellschaftliche Standards Menschen ausgrenzen.
Junger Mann blickt zweifelnd und mit gerunzelter Stirn ins Leere

»Normal« klingt wohlig, sicher, freundlich. Doch hinter dem kleinen Wörtchen steckt noch viel mehr. Anhand verschiedenster Beispiele zeigt die promovierte Historikerin Sarah Chaney eindrucksvoll: Normalität grenzt Menschen aus.

Der Titel des Buchs suggeriert, dass es sich um einen Ratgeber handelt, der Menschen dabei hilft, normal zu sein. Doch darum geht es nicht. Chaney erklärt, woher bestimmte Standards kommen und was sie für »echte« Menschen bedeuten, die ihnen nicht entsprechen.

Das Buch beginnt mit der Frage, woher die Wahrnehmung von Normalität kommt. Die Leserinnen und Leser erfahren, dass sie noch erstaunlich jung ist. Die Gauß-Verteilung dürften viele aus dem Matheunterricht kennen. Dass sie der Ursprung des Normalen ist und welche zweifelhaften Ansichten manche Menschen mit der Normalverteilung begründeten – etwa die Eugenik, die Menschen in »tauglich« und »untauglich« einteilte –, ist wohl weniger bekannt.

In den folgenden Kapiteln geht Chaney verschiedene Aspekte des Lebens durch – Körper, Verstand, Sex, Gefühle, Kinder und Gesellschaft. Immer wieder muss man feststellen: Was wir normal finden, wurde früher oft anders eingeschätzt. Und viele Normen entstanden in einem zweifelhaften Kontext.

So wollte ein forschendes Ehepaar 1924 bis 1925 im Projekt »Middletown« die Merkmale einer normalen Gesellschaft ermitteln. Ihre Daten erhoben sie in der amerikanischen Stadt Muncie (Indiana), die sie als durchschnittlich definierten. Dabei war sie das gar nicht: Es lebten dort unterdurchschnittlich wenig »People of Color«. Diese schlossen die Wissenschaftler dann auch kurzerhand ganz aus ihrer Statistik aus. Obwohl man deren »Normalität« von vornherein ausklammerte, wurde die Studie nach Veröffentlichung häufig als Beispiel für eine »typische« Gesellschaft herangezogen.  

Immer wieder macht Chaney klar, wie Normen uns leiten und regieren. Bestimmte Gefühle beispielsweise zeigen wir nicht, weil wir dann als seltsam, aggressiv, weinerlich oder überdreht gelten. Kinder, die gesellschaftlichen und sozialen Normen nicht entsprechen, werden von ihren Eltern, in der Schule oder gar ärztlich korrigiert.

Chaney macht ihren Leserinnen und Lesern klar, dass diese sich ihrer eigenen stereotypen Vorstellungen von Normalität oft gar nicht bewusst sind. Sie bringt zahlreiche Beispiele für Diskriminierung, über die viele Menschen kaum nachdenken. Der krasse Mangel an behindertengerechter Infrastruktur etwa fällt oft erst auf, wenn diese ausnahmsweise mal vorhanden ist.

»Normen entstehen aus einem bestimmten ideologischen Kontext heraus– und ihr wesentlicher Daseinszweck besteht darin, diesen Kontext zu stützen«, schreibt Chaney und unterstreicht damit das große Problem jener Menschen, die nicht in die willkürlichen Normen des Systems passen.

Das Buch ist spannend geschrieben und führt den Lesenden eigene blinde Flecken vor Augen. Die Kapitel sind sinnvoll unterteilt und der Schreibstil trotz vieler Zahlen und Fakten gut verständlich und angenehm. Persönliche Anekdoten und Gefühle machen die Autorin nahbar. Wer seine eigenen Ansichten mal grundlegend hinterfragen möchte, dem sei diese Lektüre wärmstens empfohlen.

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