Vor dem inneren Auge
Stellen Sie sich den Buchstaben D vor. Drehen Sie ihn vor Ihrem inneren Auge um 90 Grad gegen den Uhrzeigersinn und setzen Sie ihn mittig auf die Spitze des Buchstabens J. Was nehmen Sie wahr? Wer einen Regenschirm sieht, hat nicht nur seine Imagination genutzt, sondern durch sie neue Einsichten erlangt. Das ist eine der vielen Übungen, die Fred Mast, der an der Universität Bern die Arbeitseinheit Kognitive Psychologie, Wahrnehmung und Methodenlehre leitet, in seinem Sachbuch präsentiert. Darin möchte der Psychologieprofessor zum Nachdenken über geistige Phänomene anregen, wissenschaftliche Erkenntnisse dazu präsentieren und Potenziale und Risiken vor Augen führen.
In 18 Kapiteln mit Überschriften wie »Genie mit Schlagring«, »Haben Maschinen Fantasie?« und »Der evolutionäre Jackpot« widmet sich Mast der Imagination, die er als Sechser im Lotto bezeichnet. Die Fähigkeit, sich Dinge vorzustellen und so künftige Szenarien wie beispielsweise ein Bewerbungsgespräch in Gedanken durchzuspielen oder zu träumen, hilft Menschen dabei, schneller und effizienter zu agieren und neue Ideen zu entwickeln. Nicht ohne Grund werden mentale Simulationen daher im Sport oder in der Rehabilitation von Schlaganfallpatienten eingesetzt, um Bewegungsabläufe zu verbessern.
Die Welt, wie wir sie wahrnehmen, ist ein Hirngespinst
Mast ist sich sicher: »Die Welt ist nicht so, wie wir sie erleben.« Unser Gehirn konstruiert sie mit Hilfe von Sinnesdaten, Erwartungen und Vorwissen. Das, was Sie hören oder sehen, ist zuvor in über 1000 Schritten vom Rezeptor bis zur Sinneswahrnehmung verarbeitet worden. Der ursprüngliche physikalische Reiz ist dem Menschen nicht bewusst. So gebe es in der Außenwelt etwa kein Grün der Blätter, nur elektromagnetische Wellen, die das Gehirn zum Erlebnis Grün formt, erläutert der Autor.
Informationen, die von Sinnesorganen stammen, sind bisweilen ungenau und mehrdeutig. Denken Sie an den Knick eines Kochlöffels im halb vollen Wasserglas. Die Täuschung beruht darauf, dass Wasser und Luft Licht unterschiedlich brechen.
Obwohl für den Psychologen außer Zweifel steht, dass die positiven Seiten der Fantasie überwiegen, geht er auch auf Wahrnehmungsphänomene ein, welche die Betroffenen beeinträchtigen und zu viel Leid führen können. Zum Beispiel das Cotard-Syndrom, bei dem Personen davon überzeugt sind, tot zu sein. Oder die Afantasie, eine fehlende bildliche Vorstellungskraft, die rund zwei Prozent der Bevölkerung betrifft.
Aufgelockert durch persönliche Anekdoten und Infografiken zeichnet der Autor die Grundlagen, Tücken und die Macht der Wahrnehmung und Vorstellungskraft nach und liefert einen bunten Strauß an Informationen, die lose miteinander verbunden sind. Ungewöhnlich ist dabei seine Ansicht, Fantasie schärfe den Realitätssinn, statt ihn zu trüben. Schade nur, dass einige Schlüsselbegriffe nicht klar definiert sind und komplexe Sätze, Fremdwörter und ein Überschwall an Beispielen mitunter den Blick auf das Wesentliche versperren. Manchmal wäre weniger daher mehr gewesen.
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