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Heilpraktiker der Ozeane

Der Biologe Wallace J. Nichols beleuchtet den Einfluss des nassen Elements auf die menschliche Psyche aus allen erdenklichen Perspektiven – und schießt dabei über das Ziel hinaus.

Wer einmal am Meer gesessen, die Augen geschlossen und dem Rauschen der Wellen gelauscht hat, wird dem Autor des Buchs »Blue Mind« sicherlich zustimmen: Die Nähe zum Wasser, die Gleichförmigkeit der Geräusche, der Geruch der Gischt, das Gefühl von Sand unter den Füßen – all das hat etwas Heilsames. Der Geist kommt zur Ruhe, die Atmung wird ruhiger, und die Gedanken können, oft befreit von Alltagssorgen, schweifen. In seinem Buch widmet sich der Biologe Wallace J. Nichols diesen Einflüssen, indem er eine Vielzahl neurologischer Studien, Konferenzbeiträge, anekdotischer Berichte und weiterer Arbeiten beschreibt, die sich im weitesten Sinne mit Wasser und dem Menschen befassen.

Therapeutische Wirkung von Wasser

Nichols erläutert anschaulich, mit welchen Methoden Wissenschaftler unter anderem die Funktionsweise des Gehirns untersuchen, zeigt, welche (monetär durch Grundstückspreise messbare) Wertschätzung Menschen dem Meer entgegenbringen und für welch vielfältige therapeutische Anwendungen man Wasser einsetzen kann – in der Behandlung Suchterkrankter ebenso wie um Stress oder Depressionen anzugehen.

Eine das Buch leitende Annahme des Autors ist dabei das »Blaue Bewusstsein«, das man sich als einen klaren, ruhigen Geisteszustand vorstellen kann – im Gegensatz zu einem »Roten Bewusstsein«, das der Autor als »gereiztes Hochgefühl, gekennzeichnet durch Stress, Angst und vielleicht sogar ein bisschen Wut und Verzweiflung« beschreibt. Grundsätzlich ist »Blue Mind« lesenswert, es behandelt zahlreiche Themen und führt interessante Studien ins Feld.

Allerdings schießt Nichols an einigen Stellen über das Ziel hinaus und führt letztlich fast alle Studienergebnisse, die er beschreibt, auf den Aspekt »Wasser« zurück. Dabei überspannt er den Bogen häufig, und man muss sich bemühen, darüber hinwegzulesen, um die grundsätzlich meist interessanten Studien zu würdigen, auf die er verweist.

Die Beharrlichkeit, mit der Nichols quasi alles auf den Nenner »Wasser« bringt, ist anstrengend, sie verleiht seinem Werk etwas Missionarisches – man fragt sich spätestes nach der Hälfte, ob es sich um ein Sachbuch, einen Ratgeber oder ein Evangelium handelt, insbesondere wenn von der »Verbreitung der Botschaft des Blauen Bewusstseins« die Rede ist. So ist es, um nur ein Beispiel anzuführen, sicherlich richtig, dass das Gehirn beim Surfen Dopamin ausschüttet und das Erlernen des Sports therapeutisch vorteilhaft sein kann. Auch beschreibt der Autor sehr anschaulich die neurologischen Abläufe, die dabei stattfinden. Allerdings ist das kein Alleinstellungsmerkmal einer Betätigung auf dem Wasser, sondern findet in anderen Kontexten – etwas beim Joggen – ganz ähnlich statt.

Es ist auch nachvollziehbar und plausibel, dass der Aufenthalt in der Natur Belohnungszentren im Gehirn aktiviert – Nichols nutzt solche Erkenntnisse aber, um das konsequent auf Wasser zurückzuführen. Es hat esoterische Anklänge, wenn der Autor schreibt, das Leben könne schön sein, wenn »die architektonische Schönheit von Turm, Brücke, Straße (…) und Megalopolis mit blauen und grünen Räumen verwoben und getränkt ist«, oder ausführt, »Wasser ist gleichzeitig Geliebte und Mutter, Mörder und Lebensspender, Quelle und Senkgrube« oder »Unsere Erkenntnis ist (…), dass alle unsere Entscheidungen im Verhältnis zur unermesslichen und geheimnisvollen Gastfreundlichkeit gesehen werden sollten, die uns das Wasser zu erschließen ermöglicht«. Wenngleich sich viele der im Buch genannten Studien spannend lesen, sind sie nicht gleichermaßen interessant: Dass etwa Menschen, die als Kind das Angeln lernen, diesen Sport auch als Erwachsene betreiben, scheint eine banale Erkenntnis zu sein und wird ähnlich auf andere Betätigungen zutreffen, ohne dabei »Blaues Bewusstsein« zu atmen.

Insgesamt ist es schwer, eine klare Empfehlung abzugeben, denn die inhaltliche Qualität des Buchs ist so breit gespannt wie der Hintergrund der Autoren, deren Zitate Nichols vor jedes Kapitel stellt. Dort kommt Nelson Mandela ebenso zu Wort wie »Bruce der Hai«, eine Comicfigur aus dem Kinderfilm »Findet Nemo«.

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