Buchkritik zu »Chaos und Notwendigkeit«
Auf vielfältige Weise sind das Leben auf der Erde und die geologischen Prozesse, die es hervorbrachten, selbst auch Teil der kosmischen Evolution." Ein Satz aus der Mitte eines groß angelegten und rundum gelungenen Versuchs, eine Universalgeschichte des Alls zu schreiben. Dass im Universum irgendwie alles mit allem zusammenhängt, ist leicht gesagt; den Zusammenhängen im Einzelnen nachzugehen, ist Aufgabe der Wissenschaft; die gewonnenen Erkenntnisse so zusammenfassend nachzuerzählen wie Ferris, ist eine Kunst. Der Autor versteht es, ins Detail zu gehen, ohne dass der Leser den Überblick verliert. Das gelingt durch eine klug aufgebaute Schichtstruktur dieses "Reports zur Lage des Universums", der im Original an Stelle des tief schürfenden deutschen Obertitels salopp "The Whole Shebang" heißt, also etwa "All das Zeug". In der obersten Schicht unterhält der Bericht durch allerlei Anekdoten und Interviewzitate aus dem Wissenschaftsbetrieb; hier bewährt sich Ferris als routinierter Journalist. In der nächst tieferen Schicht ist das Buch eine kompakte Einführungsvorlesung in die moderne Kosmologie, verfasst vom Professor der Astronomie und Leiter eines eigenen Observatoriums in Kalifornien. Von dieser Ebene aus werden immer wieder noch tiefere Exkurse in die Quantenphysik angeboten – meist in Form ausführlicher Fußnoten, einmal in Gestalt eines ganzen Kapitels. Dieser Abschnitt wird aufmerksamen Lesern unserer Zeitschrift den Genuss verschaffen, vieles wiederzuerkennen; das Phänomen der Quantenverschränkung ist kaum je so kompakt und eingängig dargestellt worden wie bei Ferris. Nur selten erlaubt sich der Autor eine allzu spezielle Abschweifung und belastet den flotten Text in der Eile mit unnötigen oder schlecht verarbeiteten Einzelheiten. So ist die Erklärung des Sunyaev-Zeldovich-Effekts (S. 73) so radikal verkürzt, dass sie falsch wird. Ein andermal wird für "Leser, die es gern genau wissen möchten" (S. 171), ein hochspekulatives Teilchen, das Neutralino, durch unverständliches Kauderwelsch beschrieben; daran könnte in diesem Einzelfall aber auch die – ansonsten routinierte – Übersetzung schuld sein. Gegen Ende geht Ferris auf die Wahrscheinlichkeit von intelligentem Leben im Universum ein. Nach einer umsichtigen Diskussion des anthropischen Prinzips – wie muss das All beschaffen sein, damit es unseresgleichen hervorzubringen vermag? – wagt er sich zuletzt an die brisante Gretchenfrage: Legt die moderne Kosmologie mit ihrem Standardmodell eines seit dem Urknall expandierenden Universums einen Schöpfergott nahe? Ferris bringt starke Gegenargumente, wählt aber schließlich doch die diplomatische Antwort, dass die Kosmologie weder für noch gegen eine göttliche Schöpfung spreche. Er fände es darum "vorteilhaft, wenn wir Gott aus der Kosmologie ganz herausließen". Alles in allem ein äußerst empfehlenswertes Buch für jeden Menschen, der beim Anblick des nächtlichen Sternenhimmels einmal in Staunen verfallen ist und den diese kosmologische Neugier nie wieder verlassen hat.
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