Zutaten des Lebens
Wenn im Roman »Alice im Wunderland« das Mädchen in die Spiegelwelt eintaucht, dann ist ihr nur zu wünschen, dass sich auch ihre Stoffwechselenzyme spiegelbildlich umwandeln mögen. Denn sonst könnte sie die Nahrung in der umgedrehten Welt wohl nicht schadlos verdauen. Darauf jedenfalls weist Armin Börner, Chemiker und Autor dieses Buchs, hin. Viele chemische Substanzen, so Börner, können in verschiedener Chiralität vorliegen – ihre Atome können also in unterschiedlichen Anordnungen vorliegen, die sich zueinander wie ein linker Handschuh zu einem rechten verhalten, sich also nicht durch Punktspiegelung ineinander überführen lassen.
Diese Chiralität war der Grund für den Contergan-Skandal der 1960er Jahre, als zahlreiche Kinder von Müttern, die das Arzneimittel Contergan eingenommen hatten, mit schweren Fehlbildungen auf die Welt kamen. Der Wirkstoff von Contergan kann in zwei räumlichen Anordnungen vorliegen, von denen eine als Schlafmittel, die andere hingegen fruchtschädigend wirkt. Die beiden Formen konnten sich innerhalb des Körpers binnen kurzer Zeit ineinander umwandeln.
Von Aminosäure bis Zitronensaft
Börners Buch ist vor allem eine Rundreise durch die Chemie, die das Leben auf der Erde ermöglicht. Er verarbeitet immer wieder aber auch Zitate aus der Literatur, Abbildungen aus der Malerei oder philosophische Gedanken. Der Professor für Organische Chemie an der Universität Rostock schildert unter anderem, wie sich der Kohlenstoff als Baumaterial des Lebens durchgesetzt hat oder wie sich erdgeschichtliche Veränderungen des atmosphärischen Sauerstoffgehalts von praktisch null bis auf mehr als 30 Prozent auswirkten. Er geht darauf ein, wie Nahrungsmittel verstoffwechselt werden, der menschliche Körper Stickstoffverbindungen entsorgt oder wie Aminosäuren aufgebaut sind. Nebenbei erklärt er alltagsnah, wieso Urin nach Spargelgenuss so stinkt, weshalb Zitronensaft Fischgerüche neutralisiert oder warum das berühmteste Parfüm der Welt »Chanel No 5« so umwerfend duftet.
Die Alltagschemie dient Börner als Vehikel, um das Interesse seiner Leser(innen) an tiefer gehenden chemischen Details anzufachen. Oft wartet er dabei mit überraschenden Informationen auf. In einem Kapitel über Silizium und dessen vielfältige Verbindungen beschreibt er, dass manche Getreidearten Sandkörner, die scharfe Kanten und spitze Ecken aufweisen, als Fraßschutz in ihre Ähren einlagern.
Das Werk ist auf aktuellem Stand, was sich beispielsweise zeigt, wenn der Autor über Bakterien schreibt, die Schweröl oder Plastik zersetzen können. Kritisch befasst sich Börner mit wissenschaftlichen Ergebnissen wie dem Maiglöckchenphänomen. Forscher hatten berichtet, Spermien würden von Maiglöckchenduft unwiderstehlich angelockt. Das war wohl eher ein Artefakt, denn das weibliche Sexualhormon Progesteron wirkt immer noch 1000-mal stärker.
Komplexe Gleichungen und Zusammenhänge versucht der Autor verständlich darzustellen. Er macht deutlich, wie allgegenwärtig Chemie ist und warum er die Trennung zwischen »natürlichen« Prozessen und chemischen Stoffumwandlungen für töricht hält. Auch der Spaß kommt nicht zu kurz, wenn Börner etwa Philosophen, Literaten, Maler oder Filmhelden zitiert – freilich nicht immer mit fachlichem Bezug zur Chemie. Unter anderem erwähnt er, wie Mister Spock ein fiktives, auf Silizium basierendes Lebewesen analysiert oder wie Dr. House bei einem Patienten eine Selenose diagnostiziert.
Bei all der Unterhaltung ist das Buch fachlich ziemlich tiefgründig. Beim Lesen stellt sich Erstaunen ob der »ausgeklügelten« und hochkomplexen molekularen Mechanismen des Lebens ein. Das gut verständliche Werk bietet großartigen Lese- und Lernspaß und vermittelt eine Ahnung davon, wie sehr der Autor sein Fach liebt. Es ist auch als Fachbuch geeignet, in dem man nachblättern, verstehen und lernen kann. Alles in allem ein ungewöhnliches und herausragendes Chemiebuch.
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