»Chronos«: Facettenreiche Zeit
Wir leben in ihr, haben keinen speziellen Sinn für sie und können sie doch extrem präzise messen: die Zeit. Meist nehmen wir ihren ordnenden Rahmen nicht besonders wahr und werden uns ihrer Unerbittlichkeit nur bewusst, wenn wir mit dem Tod konfrontiert werden. Wenn wir über sie nachdenken, verlieren wir leicht den Halt und verfallen in tiefes Grübeln. Vielleicht bringt ja das Buch des italienischen Teilchenphysikers Guido Tonelli etwas Einsicht?
Zersplittert und unsortiert
Vor zwei Jahren legte der Autor das fantastische Buch »Genesis« über Teilchenphysik und den Urknall vor. Nun widmet er sich in »Chronos« der Zeit. Leider bleibt das neue Buch aber deutlich hinter Ersterem zurück. Tonelli schafft es nicht, eine durchgängige Geschichte zu erzählen – zu zersplittert und unsortiert ist der Text. Das ist ausgesprochen schade, denn es kommen wirklich viele Aspekte zu dem interessanten Thema zur Sprache. So bleibt es bei dem ein oder anderen spannenden Gedanken, ohne ein Gesamtwerk zu schaffen.
Beinahe klischeehaft klingt Tonellis Einführung in die prähistorischen Ansätze zur Zeitmessung, die er bei nicht weiter spezifizierten Höhlenbewohnern beginnen lässt: »Irgendwann kam ein Mensch auf den Gedanken, einen Stab in den Boden zu stecken …«, um mittels Schatten und Kieselsteinen seine Sippe rechtzeitig wiederzufinden und nicht hungrigen, nachtaktiven Raubieren zum Opfer zu fallen. Auch die folgenden Schritte der Zeitmessung, insbesondere die Entstehung und Bedeutung der prähistorischen Kalender, erzählt der Autor ziemlich lieblos.
Die spannende Entwicklung von Kerzen, Sanduhren, Pendeluhren bis hin zur modernen Atomuhr zeichnet er nur äußerst schwach nach. Manche Passagen (etwa über die Physiologie des Zeitempfindens) wirken angelesen, und etwas ungenau ist Tonelli auch bei den astronomischen Themen: So umkreist die Sonne nicht Sgr A*, das Schwarze Loch im Zentrum der Milchstraße, denn dessen Masse ist vernachlässigbar gegenüber jener der Sterne innerhalb der Sonnenbahn. Zudem verrechnet sich der Autor beim (relativistischen) Zugewinn an Lebenszeit für Astronauten im Erdorbit.
Am besten fallen die Kapitel aus, in denen sich Tonelli mit seinem eigenen Thema beschäftigt: der Teilchenphysik. Faszinierend sind etwa die Ausführungen darüber, wie der Urknall und die Energieerhaltung aus teilchenphysikalischer Sicht zusammenpassen. Ebenso gut erklärt er die Methoden, wie man Lebensdauern von Elementarteilchen messen kann – insbesondere der Zusammenhang mit der Breite der Energieverteilung dürfte nicht allgemein bekannt sein. Doch selbst hier verstolpert Tonelli den Text etwas, denn das zu Grunde liegende Noether-Theorem (nach Emmy Noether, 1882–1935) erwähnt (geschweige denn erklärt) er nicht. Stattdessen muss man sich mit »wie wohl bekannt ist …« zufriedengeben.
Natürlich gibt es viele andere Sachbücher zum Thema Zeit. Am bekanntesten ist wohl Stephen Hawkings (1942–2018) »Eine kurze Geschichte der Zeit«. Auf diesen Titel spielt Tonelli auch mit seinem Kapitel »Die lange Geschichte der Zeit« an. Mit 25 Seiten ist das aber dann doch schnell gelesen – und Sie ahnen es schon: Es kommt nicht an das Original heran.
Wie in »Genesis« auch unterbricht Tonelli seinen erklärenden Text häufig mit Vergleichen aus der Mythologie. Was im ersten Buch zu einem glänzenden Ergebnis führte, verstärkt bei dem neuen Werk allerdings nur den Eindruck, dass der gedankliche Faden verloren gegangen ist. Vielleicht hätte sich der Autor für das Verfassen seines Buchs einfach etwas mehr – Zeit – nehmen sollen.
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