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Ein Basistext der Digitalisierung

Vor mehr als 70 Jahren erörterte der Informatikpionier Alan M. Turing verschiedene Aspekte der künstlichen Intelligenz – seine Gedanken stehen heutigen Diskussionen in nichts nach.

Vom Turing-Test hat wahrscheinlich jeder, der sich für digitale Rechner und künstliche Intelligenz (KI) interessiert, schon gehört. Als das britische Multitalent Alan M. Turing (1912–1954) in seinem Aufsatz »Computing Machinery and Intelligence« 1950 die Frage diskutierte, ob Maschinen denken können, schlug er zur Beantwortung das berühmte, später nach ihm benannte Gedankenexperiment vor – denn real existierende Computer gab es seinerzeit noch nicht.

Der Turing-Test

Gemäß Turings »imitation game« sollte ein Mensch schriftlich mit zwei hinter einem Vorhang verborgenen Gesprächspartnern – einem Menschen und einer Maschine – kommunizieren und im Dialog herausfinden, welcher der beiden die Maschine sei, die menschliches Kommunikationsverhalten bloß imitiere. Falls der Prüfer auch nach längerer Unterhaltung keine Entscheidung treffen könne, müsse man der Maschine menschenähnliche Intelligenz zubilligen.

Viele wissen um den Turing-Test, aber wenige haben den epochalen Aufsatz wirklich gelesen. Auch für mich war die späte Lektüre der nun bei Reclam zweisprachig und kommentiert erschienenen Ausgabe eine Überraschung. Der Text ist nicht nur von klassischer Klarheit, sondern nimmt im Wesentlichen die gesamte seither geführte Debatte um die KI vorweg. Das ist umso erstaunlicher, als Turing selbst gerade erst die theoretische Grundlage der Computerwissenschaft schuf, ohne dass es so etwas wie Halbleitertransistoren, Chips und digitale Rechner gegeben hätte – von neuronalen Netzen und maschinellem Lernen ganz zu schweigen.

Es bereitet großes intellektuelles Vergnügen, wie Turing die Argumente, die gegen denkende Maschinen vorgebracht werden können – und die seither unermüdlich kursieren –, auflistet und in knappen Sätzen ihr Für und Wider diskutiert. Der »theologische Einwand« besagt, nur der Mensch mit seiner unsterblichen Seele könne denken; dagegen wendet Turing ein, es wäre eine Beschränkung von Gottes Allmacht, ihm die Ermöglichung künstlicher Intelligenz zu verbieten. Den »Vogel-Strauß«-Einwand, wonach die KI so gefährlich sei, dass man sie sofort verbieten müsse, kann Turing nicht ganz ernst nehmen. Mit dem »mathematischen Einwand« nimmt Turing ein unterdessen in mehreren dicken Büchern von dem mathematischen Physiker Roger Penrose (Nobelpreis 2020) vorgebrachtes Argument vorweg: Aus den 1931 vom österreichischen Logiker Kurt Gödel hergeleiteten Unvollständigkeitssätzen – wie übrigens auch aus dem turingschen Halteproblem – geht hervor, dass es für mathematische Systeme und somit auch für Computer prinzipiell unentscheidbare Aussagen gibt; also seien KI-Maschinen beschränkt. Das quittiert Turing mit einem Achselzucken; im Turing-Test würden solche exotischen Probleme keine entscheidende Rolle spielen.

Auch mit der nicht enden wollenden Qualia-Debatte – wird eine Maschine je Qualitäten wie das Rot eines Sonnenuntergangs oder Freude, Trauer und so weiter erleben? – befasst sich Turing bereits in seinem Aufsatz von 1950. Er beruft sich einfach auf sein »imitation game«: Falls eine Maschine Gefühle so überzeugend zu äußern vermag wie ein Mensch, wird man ihr wohl ebenso ein Innenleben zuschreiben müssen; schließlich erfahren wir auch über die Gefühle und Qualia-Erlebnisse unserer Mitmenschen nur durch deren Mitteilung.

Nachdem Turing acht mögliche Einwände gegen denkende Maschinen diskutiert und mehr oder weniger überzeugend widerlegt, zieht er abschließend ausgerechnet das aus heutiger Sicht skurril anmutende »Argument von der außersinnlichen Wahrnehmung« ernsthaft in Betracht. Nach seinerzeitigem Kenntnisstand gebe es »überwältigende statistische Belege zumindest für Telepathie«, und insofern würde ein Computer beim Imitationsspiel gegen telepathisch begabte Menschen unterliegen. Wie dem ausgezeichneten Nachwort zur vorliegenden Ausgabe zu entnehmen ist, »sollten noch mehrere Jahrzehnte vergehen, bis den seinerzeit als hervorragend geltenden Experimenten und Methoden völlige Unzulänglichkeit bis hin zu direktem Betrug nachgewiesen werden konnte und diese Ergebnisse als der Humbug aufgedeckt wurden, der sie tatsächlich sind«.

Die deutsche Übersetzung des englischen Originals ist makellos – bis auf einen einzigen, allerdings nicht unerheblichen Missgriff. Bevor Turing sich mit den neun Einwänden gegen die Möglichkeit denkfähiger Maschinen auseinandersetzt, schreibt er den Satz: »The original question ›Can machines think?‹ I believe to be too meaningless to deserve discussion.« Die deutsche Version übersetzt »meaningless« mit »unbedeutend«, also mit einem Synonym für nebensächlich oder belanglos. Wenn Turing das gemeint hätte, wäre sein ganzer Aufsatz, der sich doch gerade mit nichts als dieser Frage beschäftigt, ebenfalls belanglos, also überflüssig.

Tatsächlich meint Turing mit »meaningless« inhaltslos oder sinnlos in der präzisen Bedeutung, welche die analytische Sprachphilosophie seiner Zeit meinte, wenn sie gewissen Sätzen der Theologie und Metaphysik den Sinn absprach. Solche »sinnlose« Fragen lassen sich weder bestätigen noch widerlegen, sei es logisch oder sei es empirisch. Deshalb präzisiert Turing ja die von ihm aufgeworfene Frage, indem er für sie eine Verifikationsmethode erfindet, eben den nach ihm benannten pragmatisch-behavioristischen Test.

Dessen ungeachtet ist die sorgfältige, obendrein erschwingliche Reclam-Ausgabe ungemein verdienstvoll. Sie führt wieder einmal vor Augen, dass nichts die Lektüre grundlegender, unterdessen von Sekundärliteratur überwucherter Originaltexte zu ersetzen vermag.

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