»Cortex«: Wann wird es menschliches Gehirn aus der Petrischale geben?
Nach ein paar Seiten denkt man, der Inhalt des Werkes von Patrick Illinger wäre Stoff für eine Netflixserie mit spannenden Cliffhangern, die ein verregnetes Wochenende versüßt, doch in kürzester Zeit vereinnahmt der gedruckte Inhalt ebenso. Schon das Zitat aus Mary Shelleys Frankenstein zu Beginn lässt vermuten, worum es geht: Was anfangs nach einem spektakulären Flugzeugabsturz aussieht, der von einer toughen, mehrfach ausgezeichneten Journalistin untersucht wird, entpuppt sich als eine internationale Verstrickung verschiedenster Player, die vereint sind durch das hehre Ziel, menschliches Hirngewebe zu erschaffen. Viel mehr sollte man bei diesem Wissenschaftsthriller fast nicht vorwegnehmen.
Durch die bildgewaltige Erzählung springt man mit den Protagonisten durch die verschiedenen Kulissen der Szenen, ist nach wenigen Seiten von der Handlung in den Bann gezogen und sieht alles vor den eigenen Augen ablaufen. Die Reise der Journalistin Livia Chang führt von Atlanta, der Absturzstelle, quer durch die USA, über Honduras, wo wilde Banden wüten, und über das offene Meer nach Italien, wo ein Treffen der Präsidenten der Großmächte stattfinden soll, um nur einige ihrer Stationen zu nennen. Die kurzweiligen Episoden von verschiedenen Schauplätzen des Geschehens weltweit leuchten diese wie ein Suchscheinwerfer aus, ob es sich um die unappetitlich zugerichteten Opfer der Bandenkriminalität oder das Trümmerfeld der Absturzstelle des Flugzeugs handelt. Der Spannungsbogen wird stetig fester gespannt, wie beispielsweise mit der Frage, warum eine Gartenarbeiterin, die den ganz in ihrer Nähe stattfindenden Absturz fast unbeschadet überstanden hat, psychiatrisch behandelt werden muss. Welche Rolle spielen dabei Oktopusse? Und warum reagieren die Tiere auf einige Menschen derart aggressiv? Unmöglich, nicht wissen zu wollen, wie sich diese Fäden zusammenspinnen und wer oder was dahintersteckt.
All diese Fragen will die kluge Protagonistin Livia Chang aufklären, die sich zielstrebig und mit dem Mut bis Leichtsinn einer nach der Wirklichkeit Suchenden durchbeißt und ganz nebenbei Kampfgeist wie Lucy Liu in Tarantinos »Kill Bill« an den Tag legt. Ohne diese Fähigkeiten, ihre umfassenden Sprachkenntnisse sowie einen Verbündeten, der tiefen Einblick sowohl in die Aktivitäten geheimer Labore als auch in ihr Seelenleben hat, wäre die Mission vielleicht gescheitert. Doch ob sie gelungen ist, liegt am Ende im Auge des Betrachters und ist eine Frage der Perspektive: Geht es um die Lebenswelt von Livia oder um nichts weniger als die Zukunft der Menschheit?
Zwischen den Zeilen des Thrillers ist stets zu lesen, dass der Autor selbst Forscher und lange Jahre für das Ressort Wissen bei der SZ verantwortlich war, denn Zukunftsszenarien bedürfen neben Fantasie auch eines großen Wissensfundaments. Nur wenn Sciencefiction durch den Bezug zur realen Wissenschaft einen Möglichkeitsraum eröffnet, vermag sie so zu fesseln, dass es unmöglich ist, das Buch zur Seite zu legen. So hat sich die anfängliche Skepsis der Rezensentin, die Sachbuchfan ist, schnell in ein Lesefieber verwandelt.
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