Brillante Spätstarterin
Nicht oft schafft es ein Sachbuch, einen so zu fesseln, dass man es nicht mehr aus der Hand legen möchte, alles stehen und liegen lässt und erst einmal blättert, liest und wieder blättert. Das Werk von Richard Gundermann ist so eines. Der Autor schildert das spannende Leben der Physikerin Marie Curie, die mit der Entdeckung der Radioaktivität nicht nur die Radiochemie begründete, sondern Quelle vieler weiterer Entdeckungen war. Ihre Arbeit wurde schon bald mit zwei Nobelpreisen ausgezeichnet. Immerhin prägte Marie Curie als Erste das Wort »Radioaktivität«, als sie es in das Arbeitsbuch schrieb, das sie gemeinsam mit ihrem Mann führte.
Umgeben von Männern
In den Bann ziehen die vielen großformatigen Schwarz-Weiß-Fotografien der Forscherin, ihres Mannes Pierre, ihres gemeinsamen Labors sowie von zeitgenössischen Wissenschaftlern und die Abdrucke alter Zeitungsberichte über sie. Wie in ihrem Leben ist Marie Curie auch in diesem Buch umgeben von Forschern mit Weltrang. Und sie ist Teil dieser wissenschaftlichen Elite, wie Albert Einstein, Ernest Rutherford oder Henri Becquerel. Gundermann stellt auch deren Lebenswege kurz vor sowie den historischen Hintergrund, der den Ersten Weltkrieg und die Kämpfe Polens – ihres Geburtslands – um Unabhängigkeit umfasst.
Richard Gundermann ist Professor für Radiologie und beweist in den Abschnitten, die sich mit dem wissenschaftlichen Fortschritt der damaligen Zeit befassen, seine Fachkenntnisse. Zudem hat er einen verständlichen und spannenden Schreibstil.
Der Autor schildert eine Frau, die ihre Erfolge, die sie weltberühmt machten, aus eigener Kraft erreicht. Beharrlichkeit, Wissensbegierde, Neugier und Selbstbewusstsein treiben sie ebenso an wie eine große Liebe zur Wissenschaft. Einstein schrieb, Curie sei die einzige Berühmtheit, die er kenne, deren Charakter der Ruhm nicht korrumpiert habe. Dennoch hätte sie auf ihren zweiten Nobelpreis freiwillig verzichten sollen, wenn es nach dem schwedischen Nobelkomitee gegangen wäre. Der Grund: eine Liebesbeziehung zu einem verheirateten Mann. Der Sturm der öffentlichen Empörung in Frankreich gelangte bis nach Schweden. Einstein sprach ihr in dieser Lage Mut zu: »Wenn sich der Pöbel noch weiter mit Ihnen befasst, so lesen Sie einfach das Geschwätz nicht, sondern überlassen Sie es dem Reptil, für das es fabriziert ist.«
Gundermann beschreibt, wie enthusiastisch sie in starkem Kontrast dazu in den Vereinigten Staaten gefeiert wird. Eine der damals führenden Journalistinnen, Marie »Missy« Melony, hatte beträchtliche Spendengelder für Curies Forschung gesammelt, damit sich die Wissenschaftlerin genügend Radium beschaffen konnte. Als Curies Schiff im Frühjahr 1921 in New York eintrifft, wartet dort ein riesiges Aufgebot an Reportern auf sie. Der US-Präsident empfängt sie im Weißen Haus, sie darf sich zehn Ehrendoktorwürden an unterschiedlichen Universitäten abholen ebenso wie zahlreiche weitere Auszeichnungen.
Der Autor lässt nicht aus, wie schwer es Frauen in der wissenschaftlichen Welt haben, Anerkennung zu finden. Er bedaure es, in seinem Buch vorrangig von Männern zu berichten. Doch damals hieß es: Eine Frau habe keinen Verstand, sondern ein Geschlecht. Und so findet auch Curie in Zeitungsartikeln und Texten von Wissenschaftlern sexistische und herabwürdigende Bemerkungen.
Haben sich die Zeiten geändert? Sicher. Dennoch sind Frauen in diesen Disziplinen weiterhin unterrepräsentiert. Seit mehr als 100 Jahren ist Marie Curie die einzige Frau mit zwei Nobelpreisen in zwei Fachgebieten: Physik und Chemie. Es gibt insgesamt 215 Physiker-Nobelpreisträger, darunter nur vier Frauen. Chemie-Nobelpreise wurden 185-mal verliehen, davon an sieben Frauen, inklusive Marie Curie und ihrer Tochter.
Umso schöner und wichtiger ist das Buch, denn es zeigt, was eine Wissenschaftlerin erreichen konnte. Ob zum Nachlesen, Verschenken oder darin Versinken: Das Werk ist absolut zu empfehlen. Es motiviert vielleicht auch in der jetzigen Coronakrise. Wer Angst hat, ein Jahr in der Schule oder an der Universität zu verlieren: Marie Curie war immerhin schon 24, als sie sich endlich an der Universität einschreiben konnte.
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