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Kein zweites Gehirn im Bauch

Wir wissen noch sehr wenig darüber, wie das Nervengeflecht des Verdauungssystems (das "enterische Nervensystem") funktioniert, so viel macht dieses Buch klar. Der Psychologe Paul Enck, der klinische Neurogastroenterologe Thomas Frieling und der Humanbiologe Michael Schemann sind Experten auf dem Gebiet des "Bauchhirns", wie sie es selbst nennen. Doch der Begriff wirkt nach der Lektüre wie eine unzulässige Verkürzung.

Viel schreiben die Autoren vom Fressen und Gefressenwerden; von den Bewegungen des Verdauungskanals, die Nahrung von einem Ende des Körpers zum anderen befördern; von Funktionsstörungen im Gastrointestinaltrakt und dem Wirken der Bakterien in unserem Darm. Und sie tun das an vielen Stellen mit einfachen Worten, mit Zitaten aus der Popkultur und mit faszinierend unappetitlichen Episoden, unter anderem aus ihrem eigenen Forscherleben. Dass Paul, Thomas und Michael – wie sie sich selbst nennen – von ihrer Arbeit und ihrem Thema begeistert sind, ist offenkundig. Was sonst könnte Wissenschaftler dazu verleiten, sich gegenseitig mit Sensorhandschuhen am Schließmuskel zu untersuchen? Ihr Fazit des Experiments: "Am Ende eines langen Tages tat dem Forschungsteam nicht nur der Finger weh …"!

Botenstoffliste

Überhaupt gehören die Schilderungen der Versuchsanordnungen zu den anschaulichsten Buchpassagen. An anderer Stelle verfallen die Autoren dagegen in sperrige Fachkommunikation: Lange Listen mit den Neurotransmittern des "Bauchhirns" etwa vermitteln Laien kein besseres Verständnis der Materie.

Auch die Abbildungen stiften eher Verwirrung. Altmodisch in der Mitte des Buchs angeordnet, muss ein Bild oft für verschiedene Themen herhalten. Die Verbindung ist mitunter vage. So soll die Darstellung eines präparierten Meerschweinchendarms einmal verschiedene Reflexschaltkreise illustrieren und wenige Seiten später als Beispiel dafür dienen, dass der Darm seine Funktion unabhängig vom Gehirn aufrechterhält.

Für die Wissenschaftler weist diese Unabhängigkeit darauf hin, wie wichtig das Nervengeflecht des Verdauungsapparats ist. Nervenzellen und Botenstoffe seien im Darm die gleichen wie im Gehirn, und die Schaltkreise des enterischen Nervensystems beherrschten sogar einfache Formen des Lernens. Aber schon bei der Frage, ob auch ein Assoziationslernen à la Pawlow möglich sei, werden die Formulierungen vorsichtiger. Das "könnte es auch im Bauchhirn geben", schreiben die Autoren.

Köpfchen hat man nur einmal

Das Buch ist gut gefüllt mit Fragezeichen. Besonders viele enthält das Unterkapitel "Was fühlt der Darm?". Unser "Bauchgefühl" hat offenbar nicht allzu direkt mit den Vorgängen im Magen-Darm-Trakt zu tun. Und ein eigenes Bewusstsein des enterischen Nervensystems verneinen Enck, Frieling und Schemann klar. So viel also zu den "zwei Gehirnen", mit denen der Klappentext um Aufmerksamkeit heischt.

Dennoch vermittelt der Band eine Ahnung davon, wie komplex das Thema ist. Bei der Frage, inwiefern sich Reizdarmsymptome auf eine Lernfähigkeit des "Bauchhirns" zurückführen lassen, weisen die Autoren auf das kaum entwirrbare Zusammenspiel der einschlägigen Faktoren hin. Dazu gehören neben den Nervenzellen auch die Muskeln, das Immunsystem und die Darmflora mit ihren vielen Milliarden Akteuren.

Dem Mikrobiom widmen die Autoren ein halbes Kapitel – deutlich mehr als etwa dem Zusammenhang von "Bauchhirn" und Parkinsonkrankheit, auf den im Lauf der Lektüre immer wieder neugierig gemacht wird. Schon zu Beginn fragen sie: "Kann es sein, dass Nervenkrankheiten wie Parkinson nicht im Kopf, sondern im Darm entstehen und dann über den Vagusnerv ins Gehirn eindringen?" Immer wieder verweisen sie im Text darauf, dieses Thema werde im vorletzten Kapitel behandelt. Das stellt sich dann allerdings als ein Absatz in einer Liste von Nervenerkrankungen heraus, die ihren Ausgangspunkt im Darm haben könnten. Die Antwort auf die Frage lautet im Wesentlichen: Es gibt Hinweise darauf.

Die Erkenntnisse dazu, wie Nerven- und Verdauungssystem zusammenwirken, ähneln bisher einem unfertigen Puzzle, wie die Autoren selbst feststellen. Ihr Buch lässt jedoch erahnen: Ein zweites Gehirn wird das fertige Bild wohl nicht ergeben.

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