Tödliches Wundermittel
Beim Begriff "Radioaktivität" denken die meisten Menschen heute an tödlich verstrahlte Lebewesen, verlassene Landstriche und zerfallende Geisterstädte. Spätestens seit dem Reaktorunfall in Tschernobyl kennt jede(r) die Gefahr, die mit Radioaktivität einhergeht. Das Thema löst vor allem deshalb Gruseleffekte aus, weil die Strahlung radioaktiver Isotope unsichtbar und nicht direkt zu spüren ist.
Vor diesem Hintergrund erscheint es kaum vorstellbar, dass schwach radioaktive Strahlung noch vor wenigen Jahrzehnten als belebend und verjüngend galt – und radioaktive Isotope in verschiedenen Zubereitungen als Heilmittel eingesetzt wurden. Wie es dazu kam und was es für Folgen hatte, beschreibt der promovierte Kunsthistoriker Alfred Meurer im vorliegenden Buch.
Radioaktive Schönheitsprodukte
Zu Beginn umreißt Meurer kurz die Entdeckungsgeschichte der Radioaktivität. Er geht auf die Arbeiten von Henri Becquerel (1852-1908) sowie von Marie (1867-1934) und Pierre (1859-1906) Curie ein. Diese Forscher beschrieben das "strahlende" Element Radium und dessen ebenfalls radioaktives Zerfallsprodukt Radon, früher als Emanation bezeichnet. Sie spürten die zerstörerische Kraft der Strahlung – in Form von Hautschäden – am eigenen Leib; zudem stellte sich schon bald heraus, dass starke Strahlung Bakterien und Körpergewebe abtötet. Dennoch verbreitete sich der Irrglaube, schwache Radioaktivität sei ein universelles Heilmittel, befördert vom Nachweis Radiums in bekannten Heilquellen. Bereits um 1898 entstand ein umfangreiches "Radiumheilmittelgewerbe", das sich zügig vom wissenschaftlichen Erkenntnisgewinn abkoppelte und zu einem lukrativen Geschäft avancierte. Seine Akteure verdienten Geld mit radiumhaltigen Produkten, darunter Trinkkuren, Badesalze, Schönheitscreme, Haarwasser, Betteinlagen, Schuhsohlen, Wundpflaster und vielem mehr. Diese strahlenden Erzeugnisse sollten durch Freisetzung von Energie belebend wirken.
Detailliert legt Meurer dar, welche radioaktiven Produkte die "Strahlenheiler" auf den Markt brachten und wie sie diese bewarben. Ihre Marketingstrategien ähnelten stark denjenigen heutiger esoterischer "Wunderheiler". Dazu gehörte, sich auf – zumeist wissenschaftliche – Autoritäten zu berufen, weitgehend auf nachprüfbare wissenschaftliche Fakten zu verzichten, verheißungsvolle Erfahrungsberichte zu präsentieren und geschickt Heiligenlegenden mit alchemistischen Grundideen zu verknüpfen. So skizziert das Buch Parallelen zwischen der rasanten Karriere des Radiums sowie dem Entstehen der Heiligenlegende von Lourdes, einer Marienerscheinung, die angeblich eine heilende Quelle entspringen ließ und damit die südfranzösische Kleinstadt zum internationalen Pilgerzentrum machte. Eine ähnliche Verbindung sieht der Historiker zwischen dem "Stein der Weisen" mittelalterlicher Alchemisten und der universellen Heilwirkung, die dem Radium angedichtet wurde. Das belegt er anhand von Bildmaterial aus Werbebroschüren und Anzeigen, welches mit zahlreichen historischen, mythologischen und allegorischen Anspielungen arbeitet. Die Nähe zum Wunderglauben äußerte sich beispielsweise in Darstellungen von Strahlenkränzen rund um Produkte, Worte oder Menschen.
Freiwillig vergiftet
Vor allem radiumhaltige Heilquellen galten als Entsprechung des klassischen Jungbrunnenmotivs. Geräte, die das häusliche Zubereiten radioaktiver Lösungen erlaubten, machten eine solche "Verjüngung" bald ortsunabhängig möglich. Der amerikanische Geschäftsmann und Golfsportler Eben Byers beispielsweise soll über mehrere Jahre hinweg bis zu 1400 Flaschen der radiumhaltigen Trinklösung Radithor zu sich genommen haben – unter anderem als Mittel gegen Schmerzen. Dadurch erlitt er schwerste Strahlenschäden, verlor den größten Teil seines Unterkiefers und starb 1932 an Radiumvergiftung. Die Medien berichteten über seine Leidensgeschichte, was dazu beitrug, dass die Gefahren der Radioaktivität stärker in den Fokus rückten.
Das interessante Buch beschreibt die Quacksalberei rund um das "Heilmittel" Radium als historisches Phänomen, das aus heutiger Sicht kaum an Absurdität zu übertreffen ist. Als Kulturgeschichte überzeugt es. Naturwissenschaftler dürften sich hier und da zwar ein wenig mehr wissenschaftlichen Hintergrund wünschen. Dass sein Werk darauf nicht abzielt, betont Meurer jedoch von Anfang an.
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