Vorfahrt für Daten?
Die Automobilindustrie erlebt gerade die größte Transformation ihrer Geschichte. Die Zeit des Verbrennungsmotors ist zwar noch nicht vorbei, doch ihr Ende kündigt sich immer lauter an. So will Norwegen ab 2025 keine neuen Benziner oder Diesel mehr zulassen, Kommunen verhängen Fahrverbote oder verbannen Autos ganz aus den Städten, und die Ingenieure in den Entwicklungsabteilungen der Autobauer rätseln ebenso wie die Referenten im Verkehrsministerium, ob nun Brennstoffzellen oder Akkus die künftigen E-Mobile mit Energie versorgen werden.
Als gäbe es nicht Baustellen genug, treten auch noch neue Wettbewerber der Plattformökonomie wie Google oder Uber auf den Plan, die mit datengetriebenen Mobilitätskonzepten – unter anderem autonomen Fahrzeugen – den Markt und auch die Regulierungsbehörden vor unerwartete Herausforderungen stellen. Ganz zu schweigen von den Nachbeben des VW-Dieselskandals: Die illegale Abschaltvorrichtung, die dank entsprechender Programmierung gezielt die Abgaswerte manipulierte, hat der Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass Autos Computer auf Rädern sind. In einem durchschnittlichen Fahrzeug stecken 150 Millionen Zeilen Programmcode.
Neuerfindung des fahrbaren Untersatzes
Der IT-Entwickler und Hochschullehrer Timo Daum hat nun ein Buch mit dem Titel »Das Auto im digitalen Kapitalismus« geschrieben. Die Digitalisierung, so die These des Autors, krempelt nicht nur Geschäftsmodelle um, sondern verändert auch die Funktionalität des PKWs insgesamt. »Das Auto wird zum IT-Produkt, seine Nutzung zum digitalen Service, und seine Käuferinnen und Käufer werden zu Nutzerinnen und Nutzern.« Sowohl beim autonomen Fahren als auch beim elektrischen Antrieb und insbesondere bei neuen Nutzungsmodellen seien »durchgehend Kernkompetenzen der IT gefragt«, konstatiert Daum.
Der Autor, der vor zwei Jahren sein viel beachtetes und preisgekröntes Werk »Das Kapital sind wir« vorgelegt hat, nimmt hinsichtlich des Datenkapitalismus nun also das »Subsystem Auto« unter die Lupe. Sein Buch ist ein Parforceritt durch alle möglichen Teilbereiche durchdigitalisierter Vehikel – vom autonomen Fahren über Carsharing bis hin zu Robotertaxis. Auf dieser Rundreise nimmt der Autor jedoch einige Ausfahrten, deren Sinn sich nicht recht erschließt. So schreibt er über den »Green New Deal« und autogerechte Städte, ohne eine Verbindung zum Kernthema herzustellen. Worin der Zusammenhang zwischen grünem und digitalen Kapitalismus besteht, erfahren die Leser nicht.
Dabei gibt es ja durchaus Bezüge: So setzt die Datenproduktion beziehungsweise Datenverarbeitung jede Menge Kohlenstoffdioxid frei. Laut einer Studie der französischen Denkfabrik »The Shift Project« verursachen allein Streamingdienste 300 Millionen Tonnen CO2 im Jahr. Das ist etwa ein Prozent aller globalen menschengemachten Emissionen. Daraus wäre die Frage abzuleiten, ob ein algorithmengesteuertes Flottenmanagement womöglich doch nicht so klimafreundlich ist, wie die Entwickler immer behaupten, und ob der elektrifizierte, datensammelnde Verkehr nicht eher Problem als Lösung ist. Dies jedoch erörtert Daum nur am Rand. Stattdessen verliert er sich in Details über verschiedene Aussagen von Managern und Politikern.
In die holprige Analyse mischen sich zuweilen auch inhaltliche Fehler. So schreibt Daum über »Eigentumsformen« von Daten, obgleich Daten nach herrschender Meinung von Juristen gar nicht eigentumsfähig sind. An manchen Stellen wirkt das Buch wie ein Aufguss vorheriger Werke. Sätze wie »Das Auto wird zum Teil eines Mobilitätsnetzwerks« finden sich als zentrale Aussage fast wortgleich in »Das Kapital sind wir«.
Interessant wird es dort, wo Daum auf datenökonomische Details und Datenhoheit zu sprechen kommt. In Barcelona etwa gibt es Kooperativen, in denen Daten als öffentliche Güter geteilt werden und Bürger über offene Schnittstellen darauf zugreifen können. Auch das Beispiel eines auf der Berliner Stadtautobahn geblitzten Teslas, der seine Position und Geschwindigkeit (209 Kilometer pro Stunde) brav an die Zentrale funkte, ist erhellend – und zeigt das mögliche Kontrollpotenzial des digitalen Verkehrs auf.
Daums Plädoyer für eine neue Verkehrsordnung, die den »Primat des Autos« in Frage stellt, und die darin enthaltene Forderung einer »kommunalen Datenhoheit« sind diskussionswürdig, aber etwas arg verkürzt. Hier hätte man gern mehr gelesen. Es wäre insgesamt von Vorteil gewesen, wenn der Autor den durchaus interessanten Zugang zum Thema – die Fokussierung auf das Auto im Datenkapitalismus – konsequenter verfolgt und sich nicht auf so vielen Nebenschauplätzen verloren hätte.
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