Vier Striche veränderten die Welt
Vor gut 10 Jahren eroberte der Hashtag (#) die sozialen Medien – heute ist er nicht mehr aus ihnen wegzudenken. Was dieses Zeichen leistet und wie es sich zu dem heutigen Werkzeug entwickelt hat, analysiert der Kulturwissenschaftler Andreas Bernard in diesem knappen Essay.
Wer sich auf Twitter, Instagram oder anderen sozialen Medien zurechtfinden will, hat mit dem #-Zeichen das ordnungsbildende Element. Es indiziert nicht nur, es heizt Debatten auch an und gibt ihnen ein griffiges Kürzel (etwa »#MeToo«). Darüber hinaus hat sich der Hashtag zum äußerst beliebten Marketinginstrument entwickelt (»#ShareACoke«).
Bernard beschreibt die ungewöhnliche Karriere der »Raute«. Sie begann im 19. Jahrhundert als Zeichen für Nummern oder als Erkennungssymbol für die Gewichtseinheit englisches Pfund (Pound) aus der Ligatur für lb (℔). 1897 fand das Zeichen Eingang in die Schreibmaschinentastatur der »Remington 2«, die zur Universaltastatur wurde. 1968 erschien es auf Tastentelefonen als Zeichen für die Vermittlung und weitere Funktionen, vorgesehen etwa zur Eingabe von Konten- und Kreditkartennummern.
Bündelung der unterrepräsentierten Stimmen
Der heutige Gebrauch des Hashtags als Ordnungsinstrument in den sozialen Medien und als Zeitzeugnis begann erst mit einem Tweet des US-Schauspielers Chris Messina vom 23. August 2007: »how do you feel about using # (pound) for groups. As in #barcamp [msg]?«. Kennzeichnend für Bernhard ist dabei der Bezug auf das Konferenzgenre »Barcamp«, eine offene Tagung, die sehr flexibel gestaltet wird. Seit 2005 seien Barcamps »als offenes Forum angelegt, um Fragen der Netzkultur jenseits vorab festgelegter Tagesordnungen und massenmedial gefilterter Berichterstattung zu diskutieren«. Anders als einer seiner Paten, das Schlagwort als Ordnungsinstrument von Bibliothekaren, sei der Hashtag Teil der noch ungeordneten Internet-Welt: Er bündele gerade jene Stimmen, die »im herkömmlichen Mediensystem nicht ausreichend repräsentiert wurden«.
Das Revolutionäre des Hashtags, randständige Gruppen zu »trending topics« zu vernetzen, zeigte sich laut Bernard erstmals nach den Wahlen vom Frühsommer 2009 im Iran, als #iranelection mit sechzig Tweets am Tag startete und im Lauf des Monats zu mehr als zehntausend Twitter-Beiträgen pro Stunde anschwoll. 2013 und 2014 schrieben Hashtags wie #BlackLivesMatter und #Ferguson mit 15 beziehungsweise 30 Millionen Tweets Geschichte.
Neben der politischen Arena besetzte der Hashtag kurz darauf den Marketing-Schauplatz: # wurde dem Autor zufolge zum beliebten Vorzeichen von Kampagnenamen und Werbeslogans, aber auch zum Trittbrett für Firmen und andere, die sich an trendige Hashtags einfach dranhängen. Der Hashtag sei geschmeidig und anpassungsfähig genug, um eine Nähe von Neoliberalismus und sozialer Gegenöffentlichkeit herbeizuführen: Beide benutzten die gleiche Sprache, »wenngleich natürlich mit unterschiedlichen Intentionen«. Ideal sei der Hashtag daher gerade im modernen »Content Marketing« als Instrument, um Kunden über Blogs, andere Webseiten und Soziale Medien in den Dialog einzubinden. Das Marketing mache den Hashtag zugleich aber auch beliebig, denn dieser »ermöglicht, Wörter und Sätze aus jedem beliebigen Zusammenhang zu verwandeln; genau genommen verleiht er den Wörtern eine Warenfunktion«.
Inzwischen ist der Hashtag auch zum Zeichen für Eigenmarketing mutiert, wie aus dem Buch hervorgeht. Twitternde Wissenschaftler beispielsweise nutzten ihn, um eine »eigene akademische Identität herauszubilden und zu pflegen«. Bei selbst ernannten Influencern wiederum gingen »private Existenz und Marketingkampagne« für die maximale Reichweite ineinander über: Geldfluss durch Aufmerksamkeitsökonomie.
Das nur knapp 80 Seiten umfassende Werk ist leicht lesbar und gut durchdacht, anschaulich geschrieben und allen zu empfehlen, die sich über die Entwicklung eines modernen Zeichens informieren möchten, das sie womöglich täglich gedankenlos nutzen. Neben der Geschichte des Hashtags bis in die jüngste Vergangenheit hinein bietet das Büchlein auch eine luzide Analyse dazu, wie sich Medien und Kommunikation in der Gegenwart verändern. Die Zusammenstellung der verwendeten Literatur am Ende lädt zur weiteren Lektüre ein.
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