Altern als Krankheit?
Die 120-Jährigen sind schon geboren. Diese These steht am Beginn des Buchs mit dem provokanten Titel »Das Ende des Alterns«. Nun sind dubiose gesundheitliche Versprechen weder in der Ratgeberliteratur noch im Bereich Dienstleistungen und Produkte selten. Praktisch nie steckt seriöse Wissenschaft dahinter. Das vorliegende Sachbuch stammt jedoch aus der Feder von David A. Sinclair, Professor für Genetik an der Harvard Medical School und weltweit renommierter Alternsforscher mit zahlreichen Publikationen in hochrangigen Wissenschaftsjournalen. Grund genug, um zu schauen, was er zu sagen hat.
Dem Werk liegt Sinclairs Einschätzung zu Grunde, dass es sich beim Altern um eine Krankheit handelt – und zwar eine heilbare. »Kein biologisches Gesetz besagt, dass wir altern müssen«, argumentiert der Autor. Umfassend, leicht verständlich, immer gut belegt und oftmals unterhaltsam präsentiert der Genetiker das heutige Wissen um Alterungsprozesse und ihre Ursachen. Dabei kristallisiert sich heraus, dass alle Effekte des Alterns möglicherweise auf einen einzigen epigenetischen Mechanismus zurückzuführen sind, der aus der Frühzeit des zellulären Lebens stammt. Er ist ursprünglich ein Wechselspiel zweier Gene: eines, das in schlechten Zeiten die Fortpflanzung stoppt, um Energie zu sparen, und eines, das für ein Protein codiert, welches in guten Zeiten das erste Gen abschaltet. Allerdings verlässt dieses Protein immer dann seine angestammte Position, wenn DNA-Schäden zu reparieren sind – das hat Priorität. Dieser Mechanismus ist für das Überleben so bedeutsam, dass Wissenschaftler sein Wirkprinzip in Organismen von der Hefe bis zum Menschen nachgewiesen haben, wenngleich in zunehmender Komplexität.
Verrauschte Regulation
Beim Menschen gibt es mehrere dieser Gene, deren Proteine eigentlich epigenetische Aufgaben haben, aber in schlechten Zeiten – von Energiemangel über bedrohliche Temperaturen bis hin zu Stoffwechselstörungen und Krankheiten – ein Notfallmanagement betreiben. In solchen Phasen können die Proteine ihren epigenetischen Aktivitäten nicht nachkommen, und manche finden später nicht mehr dahin zurück. Infolgedessen werden Gene aktiv, die ausgeschaltet sein sollten, und umgekehrt. Es kommt zu Informationsverlusten in der epigenetischen Codierung. Irgendwann ist die epigenetische Regulation derart stark verrauscht, dass die Zelle ihre Funktion im Organismus nicht mehr erfüllt. Das Resultat sind Symptome des Alterns, die schließlich zu Krankheit und Tod führen.
Für Sinclair ist klar: Könnte man diesen epigenetischen Informationsverlust verhindern, würde man das Altern verhindern. Der Genetiker führt zahlreiche eigene Beispiele und Studien anderer Arbeitsgruppen an, die in Zell- und Tierversuchen belegt haben, dass ohne bestimmte Notfallgene auch in jungen Organismen Alterserscheinungen auftreten. Ebenso belegen Experimente: Eine verstärkte Aktivität dieser Gene kann Alterungssymptome verhindern und von der Zelle bis zum Labortier für Langlebigkeitsrekorde sorgen. Denn es sind dann genügend Kopien der Proteine aktiv, um beide Aufgabenbereiche gleichzeitig zu erfüllen. Und der Autor arbeitet noch eine weitere Erkenntnis heraus: Da Altern weniger von mutierten Genen als vielmehr von fehlerhafter epigenetischer Regulation verursacht wird, lässt es sich »korrigieren«, sofern die Zelle irgendwie noch die Information darüber besitzt, wie ihr Epigenom ursprünglich aussah. Jüngere Studien deuten darauf hin, dass dem tatsächlich so ist und gealterte Organismen wieder verjüngt werden könnten.
Wichtig ist Sinclair die Beobachtung, dass in den Studien nicht allein die Lebenserwartung, sondern die gesunde und vitale Lebenszeit gleichermaßen ansteigt – nicht zuletzt, weil typische Altersleiden ausbleiben. Vor 20 Jahren beobachtete der Autor selbst diese Effekte erstmalig an Hefezellen, in den zurückliegenden zwei Jahren haben andere Forscher für homologe Gene die gleiche Beobachtung in menschlichen Zellen gemacht.
Sinclair verwendet viel Raum darauf, die biologischen Zusammenhänge darzulegen sowie erfolgreiche Zell- und Tierversuche zu schildern. Dabei argumentiert er durchweg plausibel, wenngleich er unterschlägt, dass Wirkstoffe, die im Tierversuch noch erfolgreich wirken, bei klinischen Anwendungen sehr oft scheitern und es deshalb nicht in die Humanmedizin schaffen. Weshalb sollte ein Mechanismus, der sich in allen bislang untersuchten Lebensformen findet, beim Menschen nicht greifen? Tatsächlich liegen einige jener Wirkstoffe, welche die Aktivität von Notfallgenen verstärken, schon heute als Medikamente oder Nahrungsergänzungsmittel vor. Es fehlen aber Studien mit menschlichen Probanden – doch diese haben inzwischen begonnen.
Der Autor wirbt leidenschaftlich dafür, Altern als Krankheit anzuerkennen, um die Alternsforschung schneller voranzubringen. Das könnte – so Sinclair – viele gesundheitliche Beeinträchtigungen vermeiden, in deren Erforschung derzeit weit größere Summen fließen. Allerdings: Wer heute die Pillen schluckt, die der Autor auf Grund seiner Erkenntnisse selbst einnimmt, zahlt dafür rund 2000 Euro pro Jahr – sofern er überhaupt an sie herankommt. Sinclair argumentiert, diese Kosten könnten von den Sozialsystemen getragen werden, da im Gegenzug kaum noch Ausgaben wegen Krebserkrankungen, Demenz oder Pflege anfielen. Bis dahin empfiehlt er eine kalorienarme Ernährung, Sport und andere Maßnahmen, die für milden Stress im Organismus sorgen und so die verjüngenden Effekte der Notfallgene hervorrufen, ohne zugleich Zellschäden anzurichten.
Abschließend diskutiert der Genetiker, welche Folgen es hätte, wenn die durchschnittliche Lebenserwartung bei 120 Jahren oder mehr läge. Seinen Optimismus, wie die Menschheit damit umgehen würde, muss man nicht teilen. Aber angesichts dessen, was er in seinem Buch darlegt, sollte die Gesellschaft dieses Szenario ernst nehmen. Es könnte wirklich nur eine Frage der Zeit sein. Die Weltgesundheitsorganisation hat 2018 einen neuen Eintrag in die »International Classification of Diseases« aufgenommen, den Katalog der anerkannten Krankheiten: »MG2A: Hohes Alter«.
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