»Das Ende des Traumas«: Wege aus dem Leid
George A. Bonanno ist Professor für Klinische Psychologie am Teachers College der Columbia University in New York, wo er das Loss, Trauma, and Emotion Lab leitet. Bereits in den 2000er Jahren erregte er Aufmerksamkeit, als er die inflationäre Verwendung des Begriffs »Trauma« kritisierte – also die verbreitete Tendenz, allerlei unangenehme Erlebnisse und Belastungen als traumatisch aufzufassen. Bonannos Forschung mit Trauernden nach dem Verlust eines geliebten Menschen, mit Kriegsveteranen sowie mit Augenzeugen der Anschläge auf das World Trade Center führte ihn zu dem Schluss: Die weit überwiegende Zahl der Menschen verarbeitet selbst schlimme Erfahrungen überraschend gut. Woran liegt das? Welche Faktoren machen uns psychisch widerstandsfähig oder resilient? Und was genau ist bei denjenigen anders, die eine Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) entwickeln?
Bonannos Buch, auf Englisch bereits 2021 erschienen, erzählt zunächst die Geschichte von Jed, einem New Yorker, der an einem Winterabend auf der Straße von einem abbiegenden Lkw erfasst und überrollt wird. Ein Bein wird amputiert, einige innere Organe müssen notoperiert werden. Noch Monate später plagen Jed Schmerzen und Albträume, doch alles in allem, so erkennt er selbst verwundert, kommt er »ganz gut klar«. Nicht dass sein Leben nach diesem Schicksalsschlag nicht viel beschwerlicher und entbehrungsreich wäre, aber es erscheint ihm immer noch lebenswert – so sehr, dass er manchmal selbst darüber staunt.
Bonanno widerspricht jenem Klischee, wonach aus Stress und Trauma beinah unweigerlich eine Belastungsstörung resultiere. In Wahrheit betreffe dies kaum zehn Prozent derjenigen, die akuten Bedrohungen oder Schicksalsschlägen ausgesetzt sind. Dass sich diese anfangs in heftigen Stressreaktionen niederschlagen, bedeute keineswegs, dass das gesamte weitere Leben davon überschattet wird.
Allein die Frage, warum selbst schwerste Belastungen manche Menschen nicht aus der Bahn werfen, andere hingegen schon, scheint ein Rätsel zu bleiben. Bonanno spricht vom »Resilienz-Paradox«: Man konnte zwar die Kennzeichen einer starken Seele identifizieren, daraus aber kaum verlässliche Prognosen ableiten. »Resilienz ist kompliziert und lässt sich nur schwer präzise vorhersagen«, so sein Fazit. Das liege nicht zuletzt daran, dass die Reaktionsmuster so vielfältig seien: Menschen verdrängen, lenken sich ab, sprechen sich Mut zu, suchen Unterstützung in ihrem Umfeld, distanzieren sich vom Geschehenen, begegnen ihrem Schicksal mit Humor oder entwickeln ein auf Wachstum ausgerichtetes Mindset.
Wenn etwas als gemeinsamer Nenner der seelischen Widerstandskräfte in Frage kommt, dann laut Bonanno mentale Flexibilität. Er meint damit eine Haltung, die sich den jeweiligen Gegebenheiten immer wieder neu anpasst und mit Optimismus sowie im Glauben an die eigene Bewältigungskraft Herausforderungen annimmt, anstatt sie ängstlich zu vermeiden. Wie die traumatische Reaktion selbst ist auch die Bewältigung des Erlittenen demnach ein fortwährender Prozess, der unterschiedliche Anpassungen erfordert. Die Überzeugung, gerade an negativen Erfahrungen wachsen zu können, sei eine wichtige Voraussetzung dafür, das eigene Schicksal annehmen zu können. Das lasse sich allerdings nur schwer erlernen und gelinge oft nur durch erfolgreich bestandene Krisen, frei nach dem Motto: »Wer stark sein will, muss leiden.«
Das Buch macht es einem sprachlich oft nicht leicht, zum Kern der Sache vorzudringen. Bonannos Hang zum länglichen Erzählen wird durch die sperrige Übersetzung von Maren Klostermann noch verschärft. So berichtet Jed an einer Stelle: »Ich konnte sehen, dass es wirklich schlimm war. Ich stand an der Schwelle des Todes. Auf einer gewissen Ebene habe ich es also schon gewusst.« Ein stimmigeres Deutsch wäre nicht nur an dieser Stelle wünschenswert gewesen.
Lesenswert sind gleichwohl Bonannos historische Exkurse. So hat der Berliner Psychiater Hermann Oppenheim bereits 1899 erstmals den Begriff »Trauma« auf bestimmte »neurotische« Patienten angewandt. Doch erst 1980 wurden die Diagnosekriterien für eine entsprechende Belastungsstörung entwickelt.
Am Ende steht die Erkenntnis, dass längst nicht jedes Trauma zu einer PTBS führt und es wenig Sinn macht, selbst alltägliche Konflikte und Niederlagen zu Traumata zu erheben. Angesichts des »concept creep« – der Ausweitung des Traumabegriffs auf gescheiterte Beziehungen, das Sitzenbleiben in der Schule oder den Tod eines Haustiers – erscheint dieser Appell durchaus angebracht und heilsam.
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