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Buchkritik zu »Das Fenster zum Universum«

Der Titel ist leicht übertrieben. Der Physiker Leonard Mlodinow, der in Hollywood als Autor für Fernsehserien wie "Star Trek: The Next Generation" arbeitete, spricht von der Geometrie nur insoweit, als sie die Grundlage der Physik ist. Viele interessante Aspekte, etwa die Wechselwirkungen der Geometrie mit der bildenden Kunst, bleiben außen vor. Ein ähnliches Anliegen verfolgte schon 1969 Max Jammer in seinem Klassiker "The Concept of Space" – im Unterschied zum vorliegenden Buch allerdings in streng wissenschaftlicher Weise. Merkwürdigerweise erwähnt Mlodinow diese wichtige Quelle an keiner Stelle.

Der erste Teil des Buches schildert die Vor- und Frühgeschichte der Geometrie von den ägyptischen Seilspannern über Thales und Pythagoras bis hin zu Euklid und dessen Parallelenpostulat (heute Parallelenaxiom genannt). Ob allerdings Euklid "selbst dieses Postulat nicht sonderlich schätzte", wie Mlodinov behauptet, oder ob er dessen systematische Rolle bei der Abfassung seiner "Elemente" erkannte, das wird man wohl mangels Quellen kaum jemals klären können.

Es zeigt sich hier schon ein Zug, der dem ganzen Buch zu eigen ist: Für eine gute Pointe ist der Autor allzu leicht bereit, die historische Wahrheit zu vernachlässigen. Nach Euklid geht Mlodinov, nachdem er ausführlich die ihm offenkundig unsympathische Finsternis des Mittelalters gewürdigt hat, auf Nikolas Oresme (um 1320-1382) und seine Qualitätenlehre ein. Der große Fortschritt ist dann die Koordinatenmethode des René Descartes (1596-1650), die unabhängig und von unserem Standpunkt aus ausgereifter auch Pierre de Fermat (1601-1665) gefunden hat. Deren Grundideen werden leicht verständlich dargelegt – allerdings wieder weit ab der historischen Wahrheit: So gab es bei Descartes keine Geraden- und Kreisgleichungen in der Art, wie das Buch sie ihm zuschreibt. Geschickt wird die Mathematikgeschichte verwoben mit Informationen zu Descartes' Leben und seiner Zeit.

Der zweite Teil ist stark von der Physik geprägt. Am Anfang steht Carl Friedrich Gauß (1777-1855) mit seinen Ideen zur nichteuklidischen Geometrie und zur Differenzialgeometrie. Da Mlodinow mehr auf große Helden aus ist, erwähnt er nur kurz János Bolyai und Nikolai Lobatschewski, die unabhängig von Gauß die nichteuklidischen Geometrien entdeckten, und spielt deren Verdienste noch unzulässig herunter, indem er längst widerlegte Zweifel an ihrer Eigenständigkeit wieder aufwärmt. Weitere Ausführungen über die nichteuklidischen Geometrien befassen sich mit den bahnbrechenden Werken von Bernhard Riemann (1826-1866) und Henri Poincaré (1854-1912).

Schließlich erfahren wir einiges über Einstein und seine Relativitätstheorie sowie über moderne Theorien wie die String-, die Superstring- und die M-Theorie (Spektrum der Wissenschaft 10/1999, S. 14). Auch hier gibt es natürlich Helden, besonders John Schwarz und Edward Witten, und sie rücken immer mehr in den Vordergrund. Es versteht sich von selbst, dass technische Einzelheiten und fundierte Informationen bei diesem Thema immer seltener werden; ob der Leser allerdings mehr als eine vage Idee mitnimmt, wage ich zu bezweifeln.

Das Buch ist flott geschrieben und leicht, vielleicht sogar amüsant zu lesen. Leider bemüht sich der Autor nie, die Qualität seiner Informationen für den Leser deutlich zu machen: Reine Spekulationen, einleuchtende Interpretationen, bekannte Tatsachen und Anekdoten werden bunt gemischt zu einer munteren Hagiografie der Größten. Fundierte und kritische Informationen sollte man hier ebenso viel erwarten wie in einem Hollywood-Film; es fällt auf, dass der Autor so gut wie nie auf die Quellen zurückgeht, sondern meist sein Wissen aus Sekundärliteratur schöpft.

Es bleibt eine lebendige und kurzweilige Geschichte, bei der man nicht alles als bare Münze nehmen darf.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 6/2003

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