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Buchkritik zu »Das fünfte Wunder«

Allem Anschein nach hat der Planet Erde eine äußerst turbulente Jugend gehabt. Immerhin ist nach heutigen Erkenntnissen der Mond ein ehemaliges Stück Erde; der Meteorit, der diesen Brocken aus der frühen Erde herausschlug, muss den Planeten gründlich aufgemischt haben. Und das war nur der schlimmste unter zahlreichen Treffern. Dagegen war der Meteorit, der nach allgemeiner Auffassung vor 65 Millionen Jahren die Dinosaurier das Leben kostete, geradezu harmlos: Immerhin haben ja allerlei grüne Pflanzen, Insekten und etliches mehr überlebt. Als aber vor mehr als 3,8 Milliarden Jahren das Sonnensystem noch längst nicht so aufgeräumt war wie heute, hat ungefähr alle paar hundert Millionen Jahre die Hitzewelle eines kosmischen Geschosses unseren Planeten so wirksam sterilisiert, dass von irgendwelchem Leben auf der Oberfläche oder im Meer – und vom Meer überhaupt – nichts mehr übrig blieb. Gleichwohl gab es – so der Fossilbefund – relativ bald nach dem Ende des letzten kosmischen Bombardements die ersten primitiven Lebensformen. Wenn also die Entstehung des Lebens aus der "Ursuppe" so schnell geht: Vielleicht gab es ja mehrere Anläufe, die jeweils durch eine kosmische Katastrophe zunichte gemacht wurden? Oder vielleicht geht es doch nicht so schnell, bis die für einen lebenden Organismus erforderliche Komplexität zusammenkommt; vielmehr ist das Oberflächenleben, wie es uns als der Normalfall erscheint, gar nicht das ursprüngliche, und Bakterien, Pflanzen und Tiere stammen von den Extremophilen ab, jenen Einzellern, die sich in kochender, konzentrierter Schwefelsäure am wohlsten fühlen oder unter einer kilometerdicken Gesteinsdecke ihre Lebensenergien aus der Reaktion von Schwefelverbindungen beziehen (Spektrum der Wissenschaft 12/1996, S. 66)? Dort unten hätten sie auch einen größeren Meteoriteneinschlag heil überstanden. Oder die zähen Wesen stammen vom Mars oder sonstwoher, reisten, durch einen hinreichend dicken Gesteinsmantel geschützt, selbst in einem Meteoriten und besiedelten von innen nach außen die Erde? Vielleicht schwirren ja überall primitive Lebensformen im Weltraum umher ("Panspermie")? Lebensentstehungs-Romantik Paul Davies, Professor für mathematische Physik in Adelaide (Australien) und Autor zahlreicher Sachbücher, spekuliert gern; und die Fakten sind so mager, dass sie dafür reichlich Raum lassen. Aber Davies ist ein ehrlicher Spekulierer. Er zitiert ausführlich die konkurrierenden Theorien; er gibt auch offen zu, dass die Panspermie-Theorie nicht mehr Argumente für sich hat als andere und vor allem die entscheidende Frage "Wie entstand das Leben?" nicht beantwortet, sondern nur verlagert. Aber sie hat seine offen bekundete Sympathie, und zwar gerade, weil sie – in seinen Augen – der klassischen darwinistischen Ideologie, nach der das ganze irdische Leben Produkt des blinden Zufalls ist, nicht in den Kram passt. Davies wünscht sich, dass es eine den Naturgesetzen innewohnende Tendenz zur Entstehung von Leben gibt. "Und dann gibt es den anderen Standpunkt, sicher romantisch und vielleicht dennoch wahr: die Vision eines sich selbst organisierenden, sich selbst komplexifizierenden Kosmos, regiert von Gesetzen, die Materie ermutigen, sich zu Leben und Bewusstsein zu entwickeln. Ein Universum, in dem die Entstehung denkender Wesen Teil und Inhalt des großen Schemas ist. Ein Universum, in dem wir nicht allein sind." Bei allem Sinn für Romantik: Ich fürchte, diese Wunschvorstellung verschwimmt bei genauerer Nachprüfung bis zur Unkenntlichkeit. Auch Davies ist nicht so naiv zu glauben, es gebe eine der Natur innewohnende Tendenz zu luftatmenden, zweifüßigen und zweihändigen denkenden Wesen. Sehr viel von unserer gegenwärtigen Erscheinungsform ist unbestritten vom Zufall bestimmt. Was bleibt, ist allenfalls eine Tendenz zu Leben in einem sehr abstrakten Sinne, definiert durch organisierte Komplexität, Vermehrungs- und Anpassungsfähigkeit. Damit wird der prinzipielle Unterschied zu einem graduellen: Wurde unsere Existenz durch mehr oder weniger Zufall bestimmt? Oder noch paradoxer: Vermutlich sind die von Davies postulierten Gesetze jenseits der Physik, welche die Entstehung von Leben begünstigen, ihrerseits durch den Zufall begründet, etwa so: Ein hinreichend reichhaltiges System wie zum Beispiel die frühe Erde nimmt rein durch Zufall aus den unüberschaubar vielen physikalisch möglichen Zuständen eine repräsentative Auswahl tatsächlich an – darunter auch die verschwindend wenigen Zustände, die zur Selbstvermehrung fähig sind und sich zu lebenden Organismen weiterentwickeln können. Einerlei: Das Buch ist eine äußerst anregende Mischung aus Wissenschaft und Spekulation – auch wenn ich seinen zentralen philosophischen Gedanken nicht folgen kann.
  • Quellen
Spektrum der Wissenschaft 01/01

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