Das Streben nach der Kettenreaktion
Auf der Suche nach Möglichkeiten, den radioaktiven Zerfall zu beeinflussen, entdeckten die französischen Forscher Irène und Frédéric Joliot-Curie 1934 die künstliche Radioaktivität. Zwei Jahre zuvor hatte der englische Physiker James Chadwick das Neutron gefunden. Intensive Versuche des italienischen Kernphysikers Enrico Fermi mit Neutronen und Uran galten der Suche nach den superschweren, in der Natur nicht vorhandenen Transuranen. Die deutschen Chemiker Otto Hahn und Fritz Strassmann sowie die österreichische Physikerin Lise Meitner griffen in Berlin diese Versuche auf, was 1938 zur Entdeckung der Kernspaltung von Uran führte. Schon wenige Monate später konnte Joliot-Curie zeigen, dass eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion bei der Uranspaltung möglich sein müsste und dies zur Freisetzung großer Energiemengen führen würde.
In Deutschland, aber auch in den USA griffen alsbald mehrere wissenschaftliche Einrichtungen diesen Gedanken auf. Sie erkannten, dass sowohl der Bau einer Energie liefernden "Uranmaschine" als auch einer "Uranbombe" hoher Sprengkraft nicht in wenigen Monaten geleistet werden konnte.
Heikles Thema
Der Historiker Günter Nagel versucht im vorliegenden Buch die reichsdeutschen Entwicklungen in der "Atomfrage" zu beschreiben. Er hinterfragt, wer im Deutschen Reich was, wann und warum auf diesem Gebiet unternommen hat. Hierfür hat er zahlreiche Quellen ausgewertet. Das öffentliche Interesse an dem Thema ist nicht neu. Ende der 1960er Jahre erschienen die ersten einschlägigen Bücher, deren Aussagekraft in Zeiten des Kalten Krieges allerdings begrenzt war. Eine wahre Flut von Veröffentlichungen zum deutschen Uranprojekt erschien zwischen 1990 und 2016, darunter 2002 der erste Titel des Autors, "Atomversuche in Deutschland".
Anhand von Originaldokumenten und Zitaten präsentiert Nagel die agierenden Personen, sowohl auf Seiten der Wissenschaft als auch der Wehrmacht – letztere vertreten durch das Heereswaffenamt. Noch vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurden die Aufgaben des Uranprojekts benannt. Das Ziel der "Arbeitsgemeinschaft für Kernphysik" (ab 1939), einer lockeren Vereinigung führender Kerntechniker und informell erster "Uranverein" genannt, bestand darin, eine sich selbst erhaltende Kettenreaktion der Kernspaltung in einer "Uranmaschine" herbeizuführen. Theoretische Vorarbeiten sollten entscheiden helfen, welche Materialien hierfür in welcher Geometrie "zusammengebaut" werden mussten.
Die Projektteilnehmer in verschiedenen Einrichtungen benötigten große Mengen reinen Urans, aber sie konnten sich nur schwer darauf einigen, ob sie die Substanz als Pulver, Platte, Kugel oder Würfel einsetzen sollten. Die Hauptkontrahenten in diesem Streit waren einerseits das Heereswaffenamt mit dem Kernphysiker Kurt Diebner an der Spitze und andererseits das Kaiser-Wilhelm-Institut für Physik mit Werner Heisenberg. Letzterer war damals unbestrittenen die Nummer Eins in der deutschen Kernphysik, zumindest was die Theorie betraf. Nagel zeigt in seinem Buch auf, wie das Gerangel um Geld, Uran, "Köpfe", schweres Wasser und um Messtechnik viel Zeit und Kraft kosteten.
Der zweite Uranverein (ab 1942) war straffer organisiert. Die Verantwortung ging vom Heereswaffenamt an den Reichsforschungsrat über. Die agierenden Personen blieben im Wesentlichen dieselben. Nagel beschreibt ausführlich die Versuchsanlage nahe dem brandenburgischen Dörfchen Gottow, kurz "VersGottow" genannt. Er hat die Anlage besichtigt und versucht, den dortigen Aufbau eines ersten Kernreaktors korrekt nachzuvollziehen und ins rechte Licht zu setzen. Manche Autoren haben die Arbeiten, die in "VersGottow" unter Leitung Diebners stattfanden, schlichtweg ignoriert – obwohl diese wesentlich zur Korrektur der heisenbergschen Vorschläge beitrugen. So wurde bei Experimenten in der Anlage erkannt, dass Uranwürfel besser sind als die von Heisenberg bevorzugten Uranplatten.
Unterkritische Anordnung
Gegen Ende des Krieges wurden die Experimente erst nach Stadtilm in Thüringen und schließlich nach Haigerloch bei Stuttgart ausgelagert. Was die beteiligten deutschen Wissenschaftler dort erreicht haben, war in den heutigen Begriffen der Kerntechnik eine stark unterkritische Anordnung, die eine geringe Neutronenvervielfachung ermöglichte. Einen funktionierenden, kritischen Kernreaktor hat es nie gegeben.
Welchen Wert die Reichsführung dem Uranprojekt beimaß, lässt sich durch einen Vergleich des personellen Einsatzes für verschiedene Projekte verdeutlichen. Deutsches Uranprojekt: 1.000 Personen; deutsches Raketenprojekt: 5.000-6.000 Personen; Manhattan-Projekt in den USA: mehr als 150.000 Personen.
Die Intensität des alliierten Beutezugs am Ende des Kriegs und danach lässt ahnen, wie groß die Furcht war, dass doch noch irgendwo eine Atombombe lagern könnte. Nagel umreißt kurz die Schicksale von 19 beteiligten Wissenschaftlern und ihren Familien, deren Biografien weniger bekannt sind.
Nagel schließt sich den Spekulationen um eine deutsche Atombombe nicht an und bewertet auch nicht, ob sich die deutschen Forscher zu Recht oder zu Unrecht am Uranprojekt beteiligten. Er versucht lediglich, Zeitgeschichte zu rekonstruieren, indem er Dokumente, Fotos und Gesprächsprotokolle aus diesen Jahren aufführt. Das Buch ist auch für interessierte Laien, vor allem aber für Fachleute interessant, die sich für die Hintergründe des reichsdeutschen Uranprojekts interessieren.
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