Die Wahrheit über Pinguine
Das Buch wimmelt von Helden und Dramen. Nicht nur einmal vergisst man beim Lesen fast das Atmen, und es läuft einem ein kalter Schauder über den Rücken, denn es werden die dramatischen Expeditionen zum Südpol in den Zehnerjahren des 20. Jahrhunderts wiedergegeben. Doch auch wer sie schon kennt, erfährt Neues – und das nicht nur, weil es ebenso um das lange geheim gehaltene Liebesleben der Pinguine geht.
Schutzheilige der Scheidung
Der Autor Lloyd Spencer Davis ist neuseeländischer Biologe, der über Erdhörnchen promoviert und sich dann der Pinguinforschung verschrieben hat. Seit mehr als 30 Jahren fährt er in die Antarktis und veröffentlicht wissenschaftliche und populäre Artikel und Bücher zu den Vögeln, über die schon so viel gelogen wurde. Am publikumswirksamsten in dem Kinofilm »Die Reise der Pinguine«, ein Kassenschlager mit traumhaften Bildern, der zwar das strapaziöse Leben und Brutgeschäft der Kaiserpinguine wissenschaftlich korrekt zeigt, jedoch eine Liebesgeschichte erfindet, die jeder Realität entbehrt. Nein, Pinguine sind nicht monogam. Nein, sie bilden oft keine heterosexuelle Kleinfamilie. Davis schreibt über die Klischees im Film: »Kaiserpinguine sind nicht der Inbegriff der Liebe, sondern die Schutzheiligen der Scheidung.«
Das Besondere an diesem Buch ist, dass der Autor Themen zusammenführt, die man davor getrennt wahrgenommen hat. Da sind zunächst seine Berichte über die Polarforscher Roald Amundsen, Robert Scott, Ernest Shackleton und Fridtjof Nansen mit ihren Expeditionen, bei denen vielen die Gliedmaßen abfroren und mancher grausam starb, Schlittenhunde erschossen und Pinguine geschlachtet wurden – etwa, wenn der ganze Proviant samt den Schlitten in eine tiefe Gletscherspalte gestürzt war.
In diese Berichte ist die Geschichte des weltweit ersten Pinguinforschers eingeflochten, des eher stillen George Murray Levick, der als Schiffsarzt die Südpolexpedition des Briten Scott begleitete. Während dieser den Wettlauf gegen Amundsen verlor und Ende März 1912 starb, überlebte Levick. Mit fünf anderen Männern gehörte er zur Nordgruppe, die sich sieben Monate in einer Schneehöhle eingruben. In dieser ausweglosen Lage begann er, wann immer der antarktische Winter es zuließ, das Sozialverhalten der Pinguine zu beobachten.
Der dritte Erzählstrang, den der Autor einwebt, gilt seinen eigenen Expeditionen. Er beschreibt faszinierend, wie er Codes mit weißer Lackfarbe auf den Rücken der Vögel pinselt, um sie auseinanderzuhalten, wie er mit einer langen Bambusstange deren Hinterteile anhebt, um nach den Eiern im Nest zu schauen. Er erzählt so lebendig von ihrem Balz- und Brutverhalten, als sähe man einen Film: Das Männchen plustert die Federn am Hinterkopf auf, senkt den Kopf, steckt ihn unter einen Flügel und gibt einen Knurrlaut von sich. War die Balz erfolgreich, festigt das Paar seine Bindung durch unverwechselbare Rufe, Brust an Brust, die Schnäbel gen Himmel, und tröten.
Bei seinen Recherchen zu Levick stößt Davis auf dessen Originalaufzeichnungen von 1912, die dieser offensichtlich selbst zensiert hat. Einige Stellen sind überklebt, andere mit einer Geheimschrift aus griechischen Buchstaben geschrieben. Als seine Beobachtungen 1914 als Buch – das erste über Pinguine überhaupt – veröffentlicht wurden, fehlten all diese Stellen – auch weil man von Seiten des British Museum of Natural History ein Veto eingelegt hatte.
Durch die Zensur ist das Liebesleben der Pinguine in Levicks Buch ebenso geschönt wie im genannten Kinofilm. Weggelassen wurden alle Beobachtungen zum promiskuitiven und gewalttätigen Sex, das Besteigen von Toten, Vergewaltigungen und Prostitution: Sex gegen Steine für den Nestbau. Davis erkennt, dass er gar nicht der Erste ist, der diese Beobachtungen macht. Dreieinhalb Jahrzehnte lang war er aber der falschen Überzeugung, Pionierarbeit geleistet zu haben. Dabei trat er lediglich in den Fußstapfen eines Mannes, der, 1876 im prüden Viktorianischen Zeitalter geboren, seine Beobachtungen verheimlichte.
Manchmal springt der Autor zu schnell zwischen den verschiedenen Erzählungen hin und her, eine längere Verweildauer bei einer Person oder einer Expedition wäre besser gewesen. Dadurch verliert man einige Male fast die Orientierung. Dennoch ist das Buch etwas Besonderes. Auch weil Davis Charakterstudien der Polarforscher einfließen lässt und ein Bildteil ebendiese Männer, die Pinguine und die eiskalte Schönheit der Antarktis sichtbar macht. Ein lesenswertes Buch mit einem Mix aus Abenteuer, Forschung und Wissenschaftsgeschichte.
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