Genforschung im Zeitraffer
Der indisch-amerikanische Schriftsteller Siddhartha Mukherjee ist Arzt und Krebsforscher. Nicht nur deshalb, sondern auch aus persönlichen Gründen interessiert er sich für das Thema Vererbung. Zwei von vier Onkeln und ein Cousin litten im Lauf ihres Lebens an einer psychischen Erkrankung – ein deutlicher Hinweis auf eine vererbbare Ursache. Nach Beendigung seines preisgekrönten Erstlingswerks "Der König aller Krankheiten" (2011) besuchte Mukherjee den an Schizophrenie erkrankten Cousin in einer psychiatrischen Anstalt in Indien. Dieser Besuch ist der Aufhänger seines mehr als 700 Seiten umfassenden Meisterwerks über die Geschichte der Genforschung.
In sechs großen Kapiteln skizziert der Autor die Entdeckungsgeschichte der Vererbung und des Gens als deren informationstragende Einheit. Protagonisten des ersten Teils sind die beiden Antipoden Charles Darwin (1809-1882) und Gregor Mendel (1822-1884), die auf ihrem gemeinsamen Forschungsgebiet sehr unterschiedlichen Erfolg hatten. So war Darwin bald einer der berühmtesten Wissenschaftler Europas, während Mendels wegweisende Publikation zu dessen Lebzeiten weit gehend ignoriert wurde.
Faszinierende Doppelhelix
Im folgenden Kapitel dreht sich alles um die Entschlüsselung der Vererbung. Zwar wusste man inzwischen um das Gen als abstrakter Einheit der Informationsübertragung, doch war seine stoffliche Grundlage weiterhin unbekannt. Dies änderte sich erst mit dem Nachweis der DNA als Erbsubstanz durch Oswald Avery (1877-1955) und ihrer Strukturaufklärung durch Forscher um James Watson (geb. 1928) und Francis Crick (1916-2004).
Verstörend sind Mukherjees Schilderungen über Eugenik und genetische Säuberungen, die mit Internierungslagern für genetisch "minderwertige" Personen und Zwangsterilisationen in den USA begannen und in Nazi-Deutschland mit der Tötung von hunderttausenden "lebensunwerten" Menschen einen grausigen Höhepunkt erreichten.
Waren Mendel und seine wissenschaftlichen Erben noch reine Gen-Anatomen, begann ab etwa 1970 das Zeitalter der Gen-Physiologie mit Aufklärung wesentlicher Genfunktionen. Methoden zur DNA-Sequenzierung und Klonierung rückten den Traum der Genetiker von einer gezielten Manipulation des Erbguts in greifbare Nähe – Bestrebungen, die 2003 in der vollständigen Entschlüsselung des menschlichen Genoms gipfelten. Packend beschreibt Mukherjee die Anfänge der Biotechnologie, die einschlägigen methodischen Durchbrüche und Wettläufe zwischen Forschergruppen, etwa bei der Produktion des ersten rekombinanten Proteins oder der Entschlüsselung des Humangenoms.
Der Mensch als Designer seiner selbst?
Nach Ausführungen zur Genetik der menschlichen Identität befasst sich das Schlusskapitel mit dem "Post-Genom", dem durch Menschen gezielt veränderten Erbgut. Dabei geht Mukherjee auch auf die Auswirkungen ein, die bessere diagnostische Methoden bis hin zur Sequenzierung individueller Genome auf die Betroffenen haben, und schildert Aufstieg und Fall der ersten Gentherapien. Heute sieht der Autor die Menschheit an einem kritischen Punkt des beschleunigten Fortschritts hin zur Humangenomtechnik, und liefert einen vorsichtigen Ausblick auf künftige Entwicklungen.
Mukherjees Buch ist uneingeschränkt allen zu empfehlen, die sich für die Mechanismen der Vererbung, die Geschichte der Biotechnologie und die Zukunft der Medizin interessieren. Es fasst übersichtlich und zugleich umfassend zusammen, was wir heute über Gene wissen, und präsentiert es in einem spannenden, hervorragend recherchierten und kurzweiligen Text, der den Lesern auch die Forscher hinter den Entdeckungen näher bringt. Bei aller Begeisterung für die neuen diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten schwingt ein mahnender Unterton mit. So warnt der Autor eindringlich davor, die negative Eugenik des letzten Jahrhunderts fraglos durch eine positive Eugenik der Genomchirurgie zu ersetzen. Seine persönliche Geschichte macht Mukherjee als Betroffenen und Fachmann glaubwürdig. Er beendet "Das Gen" mit dem Manifest für eine postgenomische Welt und äußert die Hoffnung, dass die Menschlichkeit ein Teil dieser Welt bleibt.
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