»Das geschmeidige Ich«: Der Oktopus weist den Weg zum Erfolg
Bereits vor 50 Jahren entwickelte der Psychoanalytiker Erik H. Erikson den Begriff der »proteischen Persönlichkeit«. Benannt hat er sie mit Blick auf die mühelose Wandlungsfähigkeit des antiken Meeresgotts Proteus. Eine derartige Person sei bestrebt, »durch eine Haltung bewusster Veränderlichkeit mit dem ungeheuren Wandel fertig zu werden, ein Versuch, durch Spielen mit der Veränderung die Initiative zu behalten.«
Was Erikson noch als spezifisches psychisches Entwicklungsphänomen betrachtete, ist in der heutigen, kosmopolitischen, schnelllebigen Gesellschaft mittlerweile weit verbreitet. Vom heutigen Menschen wird erwartet, dass er durch vielschichtige, diffuse soziale Räume und Kontexte mit unterschiedlichen Gewohnheiten, Normen und Sprachen tänzelt, und zwar leichtfüßig und mit souveräner Nonchalance. Heute Premiere in der Staatsoper, morgen ein Bier am Fußballstammtisch, übermorgen kompetentes Auftreten bei einer wichtigen Präsentation – und das selbstsicher, ohne eitel zu wirken. Scheinbar sind wir tatsächlich in der Lage, geschmeidig die Rollen zu wechseln, unser Selbst immer wieder neu zu erfinden, ohne dabei im Chaos zu versinken. Was diese Geschmeidigkeit mit unserer Persönlichkeit und unserem Wohlbefinden macht, ist aus psychologischer Sicht allerdings eine offene Frage. In »Das geschmeidige Ich« nähert sich Martin Hecht diesem Phänomen mit Blick auf unsere Gesellschaft an.
Der Autor und Publizist definiert Geschmeidigkeit als die Fähigkeit zur Anpassung an die jeweilige Lebenswelt und zieht dabei Parallelen zum Meister der Geschmeidigkeit, dem Oktopus: »Egal ob ausweichend oder anschmiegend, in jeder seiner Bewegungen ist so viel Anmut, so viel Grazie, seine Geschmeidigkeit ist wie ein Tanz.« Zur Beschreibung dieser Fähigkeit wird er auch beim alten Knigge fündig, der eine Empfehlung zur »Geschmeidigkeit, Nachgiebigkeit, Duldung, (…), Wachsamkeit auf sich selber und Heiterkeit des immer gleich gestimmten Gemüts« ausspricht. Knigge folgte dabei einer humanistisch motivierten Idee von Weltoffenheit und Toleranz.
Hecht stellt anschaulich dar, dass von dieser Idee nicht viel geblieben ist. Geschmeidigkeit sei schon längst zum sozialen Werkzeug geworden – bisweilen sogar zur Waffe. Erfolgreich seien heutzutage jene Menschen, die sich ohne sichtbare Anstrengung an neue Anforderungen und Spielregeln anpassen können und an denen Kritik wie an einer Antihaftbeschichtung abgleitet. Man gewinnt den Eindruck, als lebten wir in einer Gesellschaft von Gummihälsen und Menschen mit einer Haut, die so dick ist, dass sie ohne Rückgrat stehen können. Ihnen stellt der Autor die Ungeschmeidigen gegenüber. Sie sind nach seiner Analyse die Verlierer der heutigen Zeit. Aufgrund ihrer Inflexibilität werden sie beruflich und sogar bei der Partnerwahl ausgebremst und gerne zur Zielscheibe öffentlichen Spotts.
Martin Hecht ist Politikwissenschaftler und versteht sich als solcher auf das Durchschauen gesellschaftlicher Machtmechanismen und Motive. Diese Aspekte sind dann auch ausgesprochene Stärken dieses Buchs, denen es seinen inhaltlich klaren Aufbau und spannende Einsichten verdankt. Wichtig finde ich den Befund, dass opportunistische Geschmeidigkeit auch zu Gleichgültigkeit gegenüber denjenigen führt, die als unwichtig für das wirtschaftliche und soziale Standing gesehen werden. Einfühlungsvermögen und Sozialität seien beim Geschmeidigen zu kapitalisierten Soft Skills und Instrumenten der Public Relations in eigener Sache geworden.
Zu den Schwächen des Buchs gehören die mitunter redundanten Beispiele bekannter Persönlichkeiten, denen der Autor ihre Geschmeidigkeit vorwirft – vom Musiker Campino bis zum Moderator einer Wirtschaftssendung der ARD, der als so lächerlich dargestellt wird, dass nicht einmal sein Name erwähnt werden müsse. Diese Teile gehen teilweise wahllos ad personam. Natürlich müssen sich Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens Kritik gefallen lassen, natürlich kann man auch über ihr Auftreten schmunzeln – aber leider tragen solche Rundumschläge wenig zum Erkenntnisgewinn bei, wenn sie nicht in eine wissenschaftliche Systematik, Theorie und Praxis eingebunden sind.
Wenig überzeugend wirken auch die mitunter formulierten Pauschalurteile. So stellt Hecht etwa pointiert die geheuchelte Authentizität sowie die Diskrepanz zwischen Schein und Sein bei manchen Autoren von Lebenshilfeliteratur dar – um sich dann gleich über sämtliche Selbsthilfebücher lustig zu machen. So einfach darf man es sich nicht machen, denn ich kenne allein schon im persönlichen Umfeld genügend Menschen, denen es durch Bibliotherapie gelungen ist, mit dem Rauchen aufzuhören oder ihre To-do-Listen unter Kontrolle zu bekommen. Die glossenhafte Überspitzung der als geschmeidig titulierten Menschen und Verhaltensmuster empfinde ich stellenweise als unnötige, seichte Unterhaltung. Erstens verfehlt diese Zuspitzung ihr Ziel, denn derartige Pauschalangriffe tragen nichts Substanzielles zu Analyse und Kritik der Geschmeidigen bei. Zweitens lenkt sie von den viel wichtigeren Fragen ab, die dieses Buch aufwirft und die einer genaueren Diskussion bedürfen.
Was passiert denn mit den Ungeschmeidigen?
Zu dieser Diskussion trägt wiederum das starke letzte Kapitel des Buchs bei. Hier unterteilt Hecht die Ungeschmeidigen in drei Typen. Dies sind zum einen authentische Lebenskünstler, die sich nicht um ihren gesellschaftlichen Status kümmern; dann gibt es Superreiche und etablierte Demagogen, die es nicht mehr nötig haben zu gefallen – oder die sich, als Gipfelpunkt dialektisch gewendeter Geschmeidigkeit, bewusst als ungeschmeidig inszenieren, um so den dritten Typus zu manipulieren, für den Ungeschmeidigkeit »die angestrebte aber misslungene Adaption des geschmeidigen Lebens« ist. Es handelt sich bei dieser letztgenannten Gruppe um die große Anzahl von Menschen, die weder die psychischen und sozialen noch die finanziellen Möglichkeiten haben, ein geschmeidiges Leben zu führen und die heute oft als »abgehängt« bezeichnet werden.
Diese Typologie ist ein konstruktiver Beitrag zum Verständnis der Krisen unserer Zeit. Lassen sich die Umbrüche, die wir erleben, vielleicht als das große Zurückschlagen der gekränkten Ungeschmeidigen erklären? Um mit einer geschmeidigen Plattitüde zu schließen: Darüber wird noch zu reden sein.
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