Epidemiologie als Allzweckwaffe
Noch vor einem Jahr hätten viele Menschen wenig mit Vokabeln wie Reproduktionszahl, Herdenimmunität, Clusterbildung und Superspreader anfangen können. Doch im November 2020 treten diese Begriffe fast täglich in Zeitungs-, Radio- und Fernsehberichten auf. Bei Google liefert der Begriff »Superspreader« rund fünfeinhalb Millionen Suchergebnisse und selbst die deutschsprachige »Reproduktionszahl« ergibt 870 000 Resultate (Stand: 17. November 2020).
Von Viren über Likes bis zu Fake News
Adam Kucharski hat mit seinem Buch den Nerv der Zeit getroffen. Der Autor hat Mathematik und Epidemiologie studiert und unterrichtet als Professor an einer Londoner Universität, wo er Ausbrüche von Infektionskrankheiten mit Hilfe mathematischer Verfahren analysiert. Das Phänomen der Ansteckung bei Epidemien bildet daher den Schwerpunkt seines Buchs. Kucharski konzentriert sich aber nicht nur auf Ansteckungseffekte in medizinischen, sondern – der Untertitel deutet es schon an – auch ganz anderen Bereichen wie der Soziologie, Psychologie und der Finanzwirtschaft.
Ende des 19. Jahrhundert modellierten Mathematiker erstmals die Ausbreitung von Krankheiten am Beispiel der Malaria zusammen mit dem britischen Arzt Ronald Ross, der 1902 dafür den Nobelpreis für Medizin erhielt. Zwei englische Ärzte nahmen seine Anregungen in den 1920er Jahren wieder auf und entwickelten das berühmte SIR-Modell. Dieses teilt eine Bevölkerung nach ihrem Gesundheitsstatus in drei Kategorien auf: Es beschreibt Personen als entweder empfänglich (S, »susceptible«), ansteckend (I, »infectious«) oder genesen (R, »recovered«). Diese Merkmale liegen auch heutigen Simulationen zu Grunde.
Der Autor schildert die weitere Entwicklung der Epidemiologie nicht chronologisch, sondern geht auf die einzelnen Bereiche ein, in denen die Modelle Einsatz finden, etwa um »moderne«, durch Viren verursachte Epidemien wie wie HIV, Dengue-Fieber, Ebola oder Zika einzudämmen und zu bekämpfen. Die Vorgehensweise von Kucharski ist sehr geschickt, der Text lässt sich bei aller Wissenschaftlichkeit leicht und spannend lesen.
Überraschend dürfte für Laien sein, dass sich Ereignisse wie Börsencrashs, das Anwachsen von Terror-Bewegungen wie dem IS sowie die Verbreitung von wissenschaftlichen Erkenntnissen – oder von Fake News – mit demselben »Werkzeugkasten« beschreiben und prognostizieren lassen. Daher haben Epidemiologen mitgeholfen, die Finanzkrise von 2007/2008 zu untersuchen und zu bewältigen. Denn die Zahlungsschwierigkeiten haben sich – ähnlich einer Krankheit – von einer Bank zur anderen ausgebreitet.
Auch für die Analyse von Beziehungen in sozialen Netzwerken sind Epidemiologen gefragt. Denn menschliche Kontakte treiben ähnliche Ansteckungseffekte voran, das gilt für elementare Ereignisse wie Gähnen oder Lachen genauso wie für die Akzeptanz von Innovationen bis hin zur Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse oder deren Leugnung. Besondere Bedeutung haben solche Prozesse durch das Internet, die zunehmende elektrische Kommunikation und soziale Medien erhalten.
Ein Beispiel dafür ist eine neue »Art« von Virus, die bereits in den 1980er Jahren auftauchte: Computerviren und andere Malware wie Würmer bedrohen zunächst einzelne Rechner und kurz darauf schon ganze Netzwerke. Um Ansteckungswege zurück zu verfolgen, sind hier die gleichen Methoden gefragt wie bei einer Pandemie.
Während es in der Medizin allerdings hauptsächlich darum geht, Ansteckungen zu vermeiden, ist man in anderen Bereichen an möglichst effektiven Ausbrüchen interessiert. Kucharski beschreibt eindrucksvoll, mit welchen Methoden personalisierte Werbung betrieben wird. Genauso interessant und erschreckend sind die Verfahren, mit denen sich Informationen und Desinformationen über soziale Medien und Kanäle wie YouTube verbreiten. Algorithmen bieten Nutzern beispielsweise gezielt jene Nachrichten an, die auf Interesse stoßen und zu weiterem Klicks führen könnten – so entstehen die oft beklagten Echokammern beziehungsweise Filterblasen.
Darüber hinaus untersuchen Experten, mit welcher Geschwindigkeit sich bestimmte Nachrichten auf Social-Media-Plattformen verbreitet. Die Kennzahl spielt daher nicht nur bei Pandemien in Form der Reproduktionszahl eine Rolle, sondern auch bei Werbekampagnen. Darüber hinaus suchen Forscher in sozialen Medien nach Superspreading-Effekten, um Gewalt (angefangen bei Jugendkriminalität, über Amokläufe bis hin zu Anschlägen des IS) vorzubeugen.
Kucharski gelingt es, die in der Medizin und Epidemiologie entwickelten Verfahren an anschaulichen Beispielen zu erläutern und dabei zu demonstrieren, wie hilfreich die Methoden in anderen Gebieten sind. Dafür kommt er – bis auf ein Mal – völlig ohne mathematische Formeln aus. Zudem ergänzen Grafiken seine verständlichen Erklärungen. Die vielen Fußnoten (etwa 600) belegen den hohen Grad an Wissenschaftlichkeit – glücklicherweise sind sie nicht auf den einzelnen Seiten, sondern im Anhang aufgeführt. Insgesamt ist das Buch von der ersten bis zur letzten Seite hochinformativ und spannend.
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