Rezensionen: Meditieren gegen die Abhängigkeit
Haben Sie sich heute schon eine Zigarette angesteckt? Konnten Sie dem Kuchenstück eben nicht widerstehen? Und wie oft haben Sie in der letzten Stunde schon nach neuen E-Mails, Facebook Likes und Tweets geschaut?
Judson Brewer hat gegen alltägliche Süchte und schlechte Angewohnheiten ein Mittel gefunden. Der Psychologe und Neurowissenschaftler an der University of Massachusetts Medical School fing während seines Medizinstudiums an zu meditieren. Mehrere Jahre später brachte er die buddhistische Praktik in die Suchtmedizin. Heute zeigt Brewer seinen Patienten, wie sie ihre Süchte loswerden können: mit Achtsamkeit. Sein TED Talk über das Thema kletterte auf Platz vier der meistgeschauten TED-Vorträge im Jahr 2016. Jetzt hat er einen Ratgeber geschrieben, der ein glücklicheres und gesünderes Leben durch Meditation verspricht.
Die langfristigen Folgen ausgeblendet
Zu Beginn des Buchs erläutert Brewer, warum wir überhaupt von etwas süchtig werden. Unser Gehirn lernt durch Belohnungen, welches Verhalten für uns am besten ist. Das hat unseren Vorfahren geholfen zu überleben. Inzwischen können wir das körpereigene Belohnungssystem jedoch leicht manipulieren: Wenn wir ein Stück Schokolade auf der Zunge zergehen lassen oder Zigarettenrauch inhalieren, wird unser Gehirn mit Dopamin geflutet. Das fühlt sich so gut an, dass wir die langfristig schädlichen Auswirkungen ausblenden.
Wer schon mal versucht hat, mit dem Naschen oder Rauchen aufzuhören, weiß, dass das nicht leicht ist – von stärkeren Drogen ganz abgesehen. Betroffene, die sich professionelle Hilfe gesucht haben, lernen oft mit der so genannten kognitiven Verhaltenstherapie, ihre Einstellungen und Gedanken über sich selbst und andere zu hinterfragen. Im nächsten Schritt versuchen sie diese automatischen, verzerrten Kognitionen zu ersetzen, um ihr Verhalten zu ändern. Die Methode hilft jedoch nicht allen und nicht immer langfristig.
Als deutlich erfolgreicher entpuppte sich Brewers Achtsamkeitsprogramm, das er vor etwa zehn Jahren zum ersten Mal mit Nikotinabhängigen testete. Es half nicht nur einem größeren Anteil der Studienteilnehmer, mit dem Rauchen aufzuhören. Erstaunlicherweise wurde auch fast niemand rückfällig, zumindest nicht in den vier Monaten, in denen Brewer und sein Team die Probanden begleiteten.
Sein Geheimrezept: Zunächst sollten die Raucher genau beobachten, wann sie zur Zigarette griffen. Oft gibt es dafür Auslösereize; bei manchen ist das Langeweile, bei anderen Stress. Ein Teilnehmer entdeckte zum Beispiel, dass er mit der Zigarette nur den bitteren Kaffeegeschmack loswerden wollte. Anschließend übte Brewer mit den Probanden, das Gefühl des Verlangens zu akzeptieren, genau darauf zu achten und es zu benennen. So brachte er ihnen bei, die Empfindung zu tolerieren, bis sie nachließ. Er nennt das auch »auf der Welle des Substanzverlangens surfen«.
Zahlreiche Suchtfallen
Die Nikotinsucht ist nicht die einzige Abhängigkeit, die der Autor in den Fokus rückt – er geht auf verschiedenste alltägliche Dopaminkicks ein, etwa die allgegenwärtige Sucht nach Technik und Zerstreuung. Anhand eines im Buch abgedruckten Fragebogens kann man überprüfen, ob man selbst betroffen ist.
Unbekannter dürfte den meisten dagegen die Liebessucht sein. Ja, nach den Hochgefühlen in einer Liebesbeziehung könne man süchtig werden, meint zumindest Brewer. Er erzählt dazu von einer sehr persönlichen Erfahrung mit seiner damaligen Collegeflamme, von der er glaubte, sie sei die Frau seines Lebens.
Laut dem Neurowissenschaftler kann sogar Denken süchtig machen. Brewer hat in verschiedenen Studien untersucht, was im Gehirn von Probanden passiert, wenn diese im Hirnscanner meditieren. Er stellte fest, dass dabei die Aktivität im posterioren zingulären Kortex absank. Diese Hirnregion ist Teil eines Netzwerks, das immer dann aktiv ist, wenn wir über uns selbst nachdenken – etwa wenn wir uns an etwas erinnern oder eine Entscheidung treffen. Je mehr Meditationserfahrung die Studienteilnehmer mitbrachten, desto untätiger zeigte sich ihr Gehirn während der Meditation.
Aber warum ist es sinnvoll, einfach mal an nichts zu denken? Brewer meint, dass wir uns in unseren Gedanken verstricken können. Wenn uns etwas Gutes oder Schlechtes widerfährt, hängen wir uns leicht an einem Gedanken auf und drehen uns nur im Kreis. Wer sich in der Meditation geübt hat, kann Erfahrungen stattdessen akzeptieren, ohne sie persönlich zu nehmen. Dem Forscher zufolge gelinge es so, sich von schlechten Erfahrungen schneller zu erholen, also resilienter zu werden. Meditationserfahrene kämen auch leichter in einen Flow. Bei diesem Zustand ist man fokussiert in eine Aufgabe vertieft.
Die Forschung des Neurowissenschaftlers überzeugt und motiviert dazu, das Meditieren auszuprobieren. Das Buch liest sich leicht und unterhaltsam, da der Autor immer wieder Anekdoten aus seinem Leben und Forschungsalltag einflechtet. Er stellt verschiedene Meditationstechniken vor, liefert allerdings keine detaillierten Anleitungen, wie man vom Smartphone oder der Schokolade lassen kann. Experimente beschreibt er so, dass auch Laien sie verstehen, und wissenschaftliche Methoden veranschaulicht er mit Vergleichen. Mitunter hätte man sich allerdings eine ausführlichere Erklärung von Fachwörtern gewünscht (Was ist etwa der Unterschied zwischen Sucht- und Auslösereiz?).
Leider scheint das Werk zudem stellenweise allzu wortwörtlich aus dem Englischen übersetzt. Als »graduate student« würde beispielsweise »Doktorand« besser passen als »graduierter Student«. Für »baseline« fanden die Übersetzer gar kein deutsches Wort, obwohl es gleich mehrere Entsprechungen gibt, wie Basis- oder Nulllinie.
Der spannende Inhalt macht diese kleinen Abstriche allerdings wett. Die Lektüre sei jedem empfohlen, der eine Alltagssucht loswerden will.
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