»Das große Buch der Gänse«: Boten am Himmel
Beim Wort Gans fällt vielen sofort »Martin« ein: wegen der Martinsgans oder Martin, der Wildgans, auf der Nils Holgersson im Kinderbuch von Selma Lagerlöf über Schweden fliegt. Außerdem ist der Gänserich Martin Mitbewohner des Ornithologen-Ehepaars Heinroth in ihrer berühmten Vogel-WG; und nicht zu vergessen das weibliche Exemplar Martina, jenes Graugansküken des Nobelpreisträgers Konrad Lorenz, das dank seiner herzzerreißenden Wi-wi-wi-Rufe weltberühmt wurde. Sie alle kommen in einer lesenswerten Neuerscheinung vor: »Das große Buch der Gänse«.
Vier Autoren, allesamt Mitglieder im Institute for Wetlands and Waterbird Research, haben den aktuellen Forschungsstand zu den Tieren zusammengetragen. Sie stecken die Leser und Leserinnen mit ihrer Begeisterung für die Himmelsboten an, die im Frühling und im Herbst mit ihren Rufen und ihren V-Formationen den Wechsel der Jahreszeiten ankündigen.
»Gänse sind auch nur Menschen«
In dem reich bebilderten Buch erfährt man vieles über die Sozialstrukturen der Gänse, über lebenslange Partnerschaften samt der tiefen, oft Jahre währenden Beziehung der Eltern zu den Küken. Wir lesen, dass die Scheidungsrate bei Gänsen außerordentlich gering ist, jedoch bei Paaren steigt, die mehrmals erfolglos brüten. Oder dass junge Gänsepaare 100 Prozent der Zeit miteinander verbringen, die Dauer mit den Jahren jedoch abnimmt, bei manchen Paaren um die Hälfte. Da fällt einem das Bonmot von Konrad Lorenz ein: »Gänse sind auch nur Menschen.« Und doch bleiben Gans und Ganter durch laute Rufe immer in Kontakt, auch wenn sie weit voneinander entfernt weiden.
Spannende Einblicke in ihr Forscherleben geben die Autoren, wenn sie uns auf die Insel Kolgujev in der Barentssee mitnehmen. Auf dieser Eismeerinsel gibt es nur ein einziges Dorf mit indigenen Einwohnern, dafür aber hunderttausende Bläss-, Weißwangen- und Saatgänse, die im kurzen arktischen Sommer brüten, um dann wieder in Europa zu überwintern. Was für ein Aufwand, den die Tiere mit ihrem Hin-und-her-Flug betreiben! Warum die Gänse diese kräftezehrenden Wanderungen unternehmen, wird anschaulich erklärt. Ebenso, warum die Keilformationen aerodynamisch so gut funktionieren.
Aber auch der Aufwand, den die Forscherinnen und Forscher treiben, ist beeindruckend: Sie fliegen mit einem riesigen Helikopter voller Gerätschaften in die Arktis und bleiben drei Monate. Sie errichten eine kleine Zeltstadt und strömen von dort aus, um Nester zu erfassen, Bestände der einzelnen Arten zu ermitteln, so viele Vögel wie möglich zu fotografieren, deren Geschlecht zu bestimmen, Blut abzunehmen, GPS-Sender anzulegen.
Ob Halsband oder Fußring besser geeignet sind, um die Gänseindividuen wiederzuerkennen, oder dass Gräser, die unter schmelzendem Schnee wachsen, besonders nahrhaft und für die Vogelmägen leicht verdaulich sind: Das Buch lässt keine Gänsefragen offen. Man lernt das alte Handwerk der holländischen Gänsefänger, den »Ganzenflappers« kennen, ebenso wie moderne Halsbandsender, die Daten in das mobile Internet schicken. Um die Milliarden Bewegungsdaten der weltweit besenderten Tiere (nicht nur Vögel) zu speichern und zu analysieren, wurde im Max-Planck-Institut für Ornithologie in Radolfzell die internationale Datenbank »movebank.org« gegründet. Die Daten verraten, ob eine bestimmte Gans gerade fliegt, schwimmt, frisst oder, falls sie einen speziellen Sender trägt, einen zu hohen Puls hat.
Auch über die Auswirkungen des Klimawandels auf die Vögel, ihre Bejagung und den ewigen Kampf zwischen Landwirtschaft und Gänseschutz berichten die Autor und Autoreninnen ausgewogen und der Komplexität angemessen. Das Buch ist für Einsteiger und Kenner gleichermaßen zu empfehlen, es ist schön illustriert, die Artensteckbriefe geben einen hervorragenden Überblick, und über QR-Codes werden Gänsestimmen hörbar, animierte Zugrouten sichtbar oder man kann ein Expeditionsvideo anschauen, das auf der Gänseinsel Kolgujev gedreht wurde.
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