»Das ICARUS Projekt«: Das Internet der Tiere
Wie schafft man es, einen Sender an einem Giraffenohr zu befestigen? Dass dies ein schwieriges Unterfangen ist, zeigt ein Foto, auf dem eine Frau und zwei Männer mit hohem körperlichem Einsatz versuchen, eine Giraffe zu diesem Zweck einzufangen. Nachdem es ihnen gelungen ist, die Ohrmarke zu befestigen, funkt diese fortan aus luftiger Höhe und zeigt an, wo sich das Tier gerade befindet.
Das Foto aus der Savanne ist eine von vielen herausragenden Aufnahmen des Fotografen Christian Ziegler im großformatigen National-Geographic-Band »Das ICARUS Projekt«. Es ist das erste Buch über dieses internationale Projekt zur Erforschung weltweiter Tierwanderungen. Geschrieben hat es der Projektgründer und Leiter Martin Wikelski, Direktor des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie in Radolfzell und Professor an der Uni Konstanz, zusammen mit Uschi Müller, die bei ICARUS als Koordinatorin aller wissenschaftlicher Partner fungiert.
ICARUS steht für »International Cooperation for Animal Research Using Space« und liefert Daten globaler Tierwanderungen mit Hilfe von Sendern und Satelliten. Da die Sender immer effizienter und kleiner werden, liefern diese Fahrtenschreiber an Tierhälsen oder Ohren, auf Rücken oder an Füßen nicht nur Bewegungsdaten, sondern auch Informationen etwa zum Salzgehalt im Meer. Die Miniaturisierung der Sensortechnik ermöglicht, dass mittlerweile sogar Insekten besendert werden können. Auch das ist nicht einfach: Man muss die zarten Tiere festhalten, jedoch dürfen die Flügel keinen Schaden nehmen. Außerdem muss der Sender so angebracht werden, dass er beim Fliegen nicht stört und zentriert ist, um die Balance beim Taumelflug nicht zu beeinflussen.
Solche Herausforderungen schrecken die Forscher und Forscherinnen nicht im Geringsten. Pfiffige Ingenieure tüfteln an Solarsendern und werden bei der Suche nach geeigneten Klebern fündig: Der hautfreundliche Wimpernkleber aus der Drogerie hält auch am Insektenkörper! Mittlerweile fliegen Totenkopfschwärmer von Konstanz über die Alpen und senden Flugdaten, erste Monarchfalter absolvieren mit Telemetriesender auf dem Rücken ihre Testflüge auf der Insel Mainau, ein Admiral mit Solarsender auf dem Rücken fliegt auf dem Gelände des Max-Planck-Instituts probehalber seine Runden.
Ob besenderte Schmetterlinge, Hummeln, Ziegen, Wale, Schildkröten oder Graugänse: Sie alle gehören zum »Internet der Tiere«, wie Martin Wikelski das globale Netzwerk intelligenter Messstationen nennt, die Informationen über Aktivitäten und Verhaltensweisen von Tieren samt Daten ihrer Umgebung liefern und zusammenführen.
Während die klassischen Verhaltensforscher wie Konrad Lorenz oder NikoTinbergen in Sicht- und Hörweite der Tiere sein mussten, um sie zu beobachten, können die heutigen Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen am Bildschirm verfolgen, wo ihre Gänse fliegen oder sehen, »wenn ein Wal auf den Azoren nach links abbiegt«, wie es im Buch heißt.
Längst geht es nicht mehr nur um Wanderungen, ein Sender kann melden, wenn eine Ente in China Fieber hat, und so frühzeitig vor Viruserkrankungen warnen, bevor sie auf Menschen überspringen und womöglich zur Pandemie werden; Bio-Logger an Störchen können anzeigen, wo eine Heuschreckenplage droht, weil die Vögel sich dort versammeln, wo Wanderheuschrecken aus dem Boden schlüpfen; See-Elefanten informieren über den Zustand der Ozeane, indem sie Temperatur und Salzgehalt des Wassers messen; Wettervorhersagen werden in Zukunft durch die vielen Messdaten immer präziser, Flugmuster von Vögeln etwa können auf die Entwicklung eines Wirbelsturms hinweisen.
Wikelski, den manche »Mister ICARUS« nennen, hatte die Idee, mittels Satellitenbeobachtung aus dem All unzähligen Tieren in jedem Winkel der Erde zu folgen, vor 20 Jahren. Sie hat das Potenzial, die Verhaltensforschung weit voranzubringen und dem Natur- und Klimaschutz als Instrument zu dienen.
Ein grandioses Buch, das man nicht nur einmal liest, sondern schon allein wegen der fantastischen Fotos und Karten immer wieder zur Hand nimmt.
PS: Wer die »Animal Tracker App« des Max-Planck-Instituts für Verhaltensbiologie auf sein Smartphone lädt, kann die Wanderungen der Tiere in Echtzeit beobachten und selbst Teil des Netzwerks ICARUS werden.
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