Germanische Anpassungskünstler
Die Stämme, die im Zuge der Völkerwanderung seit dem 3. Jahrhundert das römische Reich heimsuchten und es schließlich zu Fall brachten, gelten bis heute als barbarische Horden. Dies trifft auf die Goten zu mit ihrem Anführer Alarich, auf die Hunnen mit ihrem König Attila – und insbesondere auf die Vandalen unter Führung Geiserichs, die geradezu archetypisch für Zerstörungswut stehen, leitet sich doch der Begriff "Vandalismus" von ihnen ab. Diesen miserablen Ruf verdanken sie dem französischen Geistlichen Henri Baptiste Grégoire (1750-1831), der den Bildersturm der Jakobiner mit der Wortschöpfung "vandalisme" geißelte. Der Begriff wurde schnell zum geflügelten Wort.
Konrad Vössing, Althistoriker an der Rheinischen Friedrich-Wilhelm-Universität Bonn, zeichnet ein anderes Bild von dem angeblich so destruktiven Volk. Die Vandalen waren ihm zufolge keine blindwütigen Zerstörer, sondern passten sich klug den Verhältnissen an, regierten als Staatengründer mit politischem Fingerspitzengefühl und besaßen einen Sinn für Kunst.
Einmal quer durch Europa und nach Afrika
Vor dem Hintergrund des spätrömischen Verfalls und der Völkerwanderung beleuchtet der Autor sehr fesselnd die Geschichte der Vandalen – von den Anfängen des germanischen Volks bis zu seinem Untergang im Jahr 534. Ursprünglich siedelten die Vandalen im Großraum zwischen Oder, Bug und oberem Dnjestr, auf heute polnisch/ukrainischem Gebiet. Sie waren eine von vielen germanischen Stammesgemeinschaften, ethnisch und kulturell bunt zusammengewürfelt, und gehörten im 5. Jahrhundert jener Völkerlawine an, die sich durch halb Europa wälzte und den Untergang des weströmischen Imperiums besiegelte. Die Vandalen marschierten durch Gallien und Hispanien (Iberische Halbinsel) bis nach Nordafrika, wo sie sich in der römischen Provinz Africa proconsularis, im heutigen Tunesien, eine neue Heimat eroberten.
Dort errichteten sie nach 429 unter ihrem charismatischen Führer Geiserich ein florierendes Königreich, das mehr als 100 Jahre bestand, bis der oströmische General Belisar es im Jahr 534 zerstörte. In diesem Zeitraum erwiesen sich die vermeintlich kulturlosen Barbaren als außerordentlich geschickt. Innenpolitisch agierten sie maßvoll, legten eine erstaunliche religiöse Toleranz an den Tag und sorgten für relativ stabile Verhältnisse in ihrem Reich, obwohl sie nur die Minderheit der Bevölkerung stellten. Die Vandalen machten sich die altansässige Beamtenschaft dienstbar, nutzten den römischen Verwaltungsapparat und zeigten sich auch sonst sehr anpassungsfähig an die römische Kultur.
Germanen, die in Thermen baden
Dafür spricht nicht nur, dass vandalische Emporkömmlinge wie der Heerführer Stilicho in die römische Herrschaftskaste integriert wurden, sondern auch, dass die heidnischen Eroberer zum christlichen Glauben übertraten und den römischen Lebensstil annahmen. Bereitwillig gaben sie sich dem provinzialrömischen Wohlleben hin, badeten in Wellness-Anlagen, tafelten in luxuriösen Villen zu Tische liegend aus kostbarem Essgeschirr, veranstalteten Wagenrennen, nahmen die lateinische Sprache an, versahen ihre germanischen Namen mit lateinischen Endungen und ließen – wie zuvor die Römer – in Mosaiken eine neu gewonnene Leidenschaft in Szene setzen: die Jagd.
Trotz aller Affinität zum Imperium segelten die Vandalen im Jahr 455 von Nordafrika aus übers Mittelmeer, um Rom zu plündern, was bei zeitgenössischen Chronisten Empörung auslöste. Zwar nahmen die "Barbaren" bei ihrem zweiwöchigen Raubzug alles mit, was nicht niet- und nagelfest war, doch praktizierten sie nicht das, was heute einen Täter zum "Vandalen" macht: blindwütige Destruktion. Dafür schätzten sie die römischen Kunstwerke viel zu sehr. Dennoch beschädigten sie mit dieser Plünderung ihren Ruf unumkehrbar.
Von der Geschichte verweht
Das Vandalenreich kollabierte, als im 6. Jahrhundert die Mauren an seinen Rändern nagten und der oströmische Kaiser Justinian von Konstantinopel aus die "byzantinische Rückeroberung" Nordafrikas einleitete. Mit diesem Versuch, die Region wieder mit dem Römischen Reich zu vereinen, endete das vandalische Experiment. Den letzten König Gelimer schickte General Belisar nach Kleinasien in den Ruhestand, die überlebenden Soldaten verfrachtete er als Kriegsgefangene nach Konstantinopel und gliederte sie in sein Heer ein. Die übrigen Vandalen gingen in der Bevölkerung Nordafrikas auf.
Vössings ausgezeichnetes Buch eröffnet dem Leser einen vorurteilsfreien Blick auf diesen germanischen Stammesverband, der den ersten souveränen "Barbarenstaat" auf römischem Boden etablierte. Ein empfehlenswertes Werk für alle Interessierten.
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