Wie der Mensch zum Menschen wurde
Dierk Suhr ist Biophysiker und beschäftigt sich nicht nur mit Wissenschaftsgeschichte und -theorie, sondern leidenschaftlich gern auch mit der Evolution. Speziell die extrem vielschichtige und komplexe Entwicklungsgeschichte des Menschen fasziniert ihn. Jener Passion folgend, verbrachte er nicht nur ein Sabbatical am renommierten Neanderthal Museum in Mettmann, er verfasste auch dieses Sachbuch. Es soll eine aktuelle Orientierung auf diesem Feld geben, greift dabei viele aktuelle Theorien der Menschwerdung auf und versucht sich an der schwierigen Aufgabe, ein Gesamtbild zu erstellen.
Um es vorwegzunehmen: Der Versuch gelingt recht gut, allerdings mit kleineren Einschränkungen. Die zwölf Kapitel vermitteln auch Laien viel Aktuelles und Wissenswertes aus der Anthropologie und angrenzenden Disziplinen. Suhr fängt wirklich ganz am Anfang an: von der Planetenentstehung über die Bildung der ersten Zellen bis hin zu einem Abriss der relevanten Erdzeitalter. Auch die Evolutionstheorie und das Selbstbild des Menschen im Wandel der Zeiten behandelt er, bevor er schließlich ans Eingemachte geht: die Entwicklung des Menschen nebst wissenschaftlicher Erklärungsversuche. Leser, die entsprechendes Vorwissen bereits mitbringen, können durchaus ein paar Kapitel überspringen und dort einsteigen, wo es für sie spannend wird.
Mutation, Vererbung und Selektion
Der Autor erklärt zunächst, welche Voraussetzungen die Menschwerdung hatte, angefangen bei Mutation, Selektion und Zufall bis hin zu den sich ändernden klimatischen Bedingungen der jüngeren Erdgeschichte. Er pflegt einen wissenschaftsnahen und nüchternen Stil, nutzt oft und gern Originalzitate und strukturiert die Inhalte dabei didaktisch sinnvoll. Da er weder Paläontologe noch Primatenforscher oder Anthropologe ist, überlässt er die Bewertung wissenschaftlicher Erkenntnisse anerkannten Experten aus den jeweiligen Themenbereichen. Das ist zu begrüßen. An den Stellen allerdings, wo er aus fremdsprachigen Standardwerken oder Fachartikeln zitiert, wäre eine konsequente Übersetzung wünschenswert gewesen. Nicht alle seine Leser dürften Französisch auf entsprechendem Niveau beherrschen.
Den Kern des Buchs bilden die Kapitel rund um die Vorläuferspezies des Homo sapiens und die zugehörigen Knochenfunde sowie die Theorien um deren jeweilige Verwandtschaftsbeziehungen. Deutlich wird hier, wie sehr der Buchtitel zutrifft. Denn die diversen Funde sind wirklich ein Mosaik – um mit Suhr zu sprechen: eher ein Stammbusch als ein Stammbaum. Gehören beispielsweise die in der gleichen Bodenschicht, aber an unterschiedlichen Standorten gefundenen Zehenknochen sowie das Unterkieferfragment wirklich zu einer Spezies oder doch zu verschiedenen? Ist jene Knochenform tatsächlich ein ursprüngliches Merkmal – oder zeugt sie von der morphologischen Bandbreite lokaler Populationen? Den diesbezüglichen Expertenstreit beleuchtet Suhr umfassend und macht dabei deutlich, wie schwierig die Frage nach unserer Herkunft selbst für Fachleute ist.
Der Band gibt keine definitiven Antworten auf Fragen wie: »Aus welcher Umwelt heraus ist der Mensch entstanden?« oder »Wie kamen wir zum aufrechten Gang und zu unserem großen Gehirn?«. Stattdessen, und das ist seine Stärke, stellt er jeweils mehrere, teils konkurrierende Modelle vor. Trotzdem gelingt es ihm, mögliche Szenarien herauszuarbeiten und dem Leser einen Eindruck davon zu vermitteln, wie es gewesen sein könnte.
Zahlreiche farbige Abbildungen berühmter Fossilien und entsprechender Nachbildungen machen das Ganze anschaulich. Fotos eines rekonstruierten Homo-ergaster-Jungen beispielsweise lassen diesen Vorfahren quasi lebendig werden. Einziger Wermutstropfen in diesem Buchabschnitt: Die seitenlange Abfolge von Datierungen, Gehirnvolumen und anderen Merkmalen ist inhaltlich sicher richtig und wichtig, sorgt aber nicht unbedingt für Spannung. Hier merkt man auch, dass eine gewisse Vorbildung dann doch von Nutzen ist. Erklärungen zum Spezieskonzept oder eine Definition, was unter einem Typusexemplar zu verstehen ist, fehlen.
Nachdem Suhr die verschiedenen Theorien zur Menschwerdung vorgestellt hat – von der Savannen- über die Wasseraffenhypothese bis zum Aasfresser-Modell –, hebt er hervor, welche Eigenschaften uns vermutlich zum Menschen mach(t)en. Hier geht es stellenweise deutlich über Paläontologie und Anthropologie hinaus. Aufrechter Gang, Beherrschung des Feuers oder verändertes Becken sind hier ja gewissermaßen die Klassiker. Wenn es aber um unser soziales Gehirn geht, streift Suhr philosophie- und sozialtheoretische Konzepte, etwa die Intersubjektivität. Darunter versteht man die von Individuen und Gruppen geteilte Wahrnehmung der Wirklichkeit, die ein Grundstein menschlicher Zivilisationen sei. Auch einen Exkurs in die evolutionäre Kognitionsforschung unternimmt der Autor: Wie ist unser Gehirn entstanden, warum haben wir Bewusstsein, welchen evolutionären Vorteil gewährt es, und können wir eigentlich unseren eigenen Verstand begreifen? All das bietet reichlich Stoff zum Nachdenken und stellt sicher einen größeren Mosaikstein der Menschwerdung dar.
Insgesamt liefert der Autor eine aktuelle Übersicht über Evolutionsmodelle der Menschwerdung ab. Man findet einzelne Inhalte sicher noch ausführlicher in anderen Sach- und Fachbüchern, aus denen er teilweise auch zitiert. Kompakt, übersichtlich, interdisziplinär und mit großer Themenvielfalt bietet das Buch aber klare Vorzüge. Als weiteren Service gibt es die E-Book-Version kostenlos dazu.
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