»Das Museum der unnützen Körperteile«: Vom Affenmuskel bis zum Weisheitszahn
Das Steißbein war einmal ein Menschenschwanz. Die Weisheitszähne dienten dem Zermalmen ungekochter Nahrung. Und unsere Körperhaare sind Rudimente eines Fells, das unsere Vorfahren schützte. »Wissen wir doch schon alles!« – winken jetzt vielleicht aufgeweckte Kinder ab, die dank »Sendung mit der Maus«-Expertise und Museumsbesuchen über viel Know-how in Biologie verfügen.
Doch ob selbst kundige Kinder wissen, dass wir den Schluckauf unseren (tierischen) Vorfahren zu verdanken haben? Denn das ruckartige Schließen einer Klappe in der Kehle war nötig, um vom Atmen an Land zum Atmen unter Wasser wechseln zu können. Und wer weiß schon, dass uns einst, als wir noch frierende Fellträger waren, die »Gänsehaut« vor Kälte schützte, weil durch die sich aufrichtenden Härchen ein Hohlraum zwischen Haut und Haaren entstand, der sich durch unsere Körperwärme aufheizen konnte? Oder – noch abenteuerlicher – dass ein menschlicher Fötus heute noch über zwei Nierenpaare verfügt, die auf Urzeitfische von vor 400 Millionen Jahren zurückgehen? Das zuerst entstehende Nierenpaar bildet sich komplett zurück (sogenannte Verschwundene Nieren), sobald das zweite Nierenpaar entwickelt ist und seine Arbeit aufnehmen kann. All das und noch viel mehr erfahren Grundschulkinder im »Museum der unnützen Körperteile«, das eher unbekannte Kapitel der menschlichen Evolution präsentiert. Die Autorin Rachel Poliquin und der Illustrator Clayton Hanmer – beide aus Kanada – haben es zwischen zwei Buchdeckeln errichtet.
Der Besuch lohnt sich. Statt eines Inhaltsverzeichnisses führt ein Lageplan durch das Museum aus Papier. Dessen 17 Räume markieren Kapitel, die je ein rudimentäres Körperteil oder einen rudimentären Körperreflex ausführlich, informativ und mit (Wort-)Witz vorstellen: von den Affenmuskeln bis zu den Weisheitszähnen. Die Texte erstrecken sich durchaus auch mal über mehrere Seiten, wenn es das Thema erfordert; wie im Kapitel über Weisheitszähne, in dem gut nachvollziehbar und differenziert anhand der Geschichte von Ackerbau und Ernährung die Veränderungen in unserem Kiefer erklärt werden. Der Ton ist locker, die Ansprache persönlich und interaktiv. Die Sprache ist verständlich, der Satzbau meist übersichtlich – bis auf einige Ausnahmen mit Satzkonstruktionen, die für viele in der jungen Zielgruppe etwas zu komplex sein dürften.
Dass der Buchtitel »unnütze Körperteile« ankündigt, ist etwas irreführend. Denn Rachel Poliquin macht ja an vielen Stellen klar, dass manche Körperteile zwar aus Laiensicht »unnütz« erscheinen mögen, tatsächlich aber eine (oftmals noch nicht ganz erforschte) Funktion haben. Beispiel Blinddarm: Nach einer neueren Theorie könnte er durch seinen gespeicherten Vorrat an hilfreichen Darmbakterien daran beteiligt sein, nach überwundenen Krankheiten für den Wiederaufbau einer gesunden Darmflora zu sorgen.
Weisheitszahn und »Verschwundene Niere« führen durchs Museum
Infografiken, Zusatzinfos und Funfacts in Kästen und Rahmen lockern längere Textpassagen auf und liefern einen inhaltlichen Mehrwert. So können Kinder bestimmte Themen vertiefen oder nur einzelne ihrer Aspekte ansteuern. Als Museumsführer und »Erklärbären« der anderen Art fungieren ein pfiffiger Weisheitszahn und eine zu plötzlichen Abgängen neigende »Verschwundene Niere«. Die beiden vermitteln mit Witz und gegenseitigen Neckereien zwischen den Inhalten und den Lesenden und besitzen Identifikationspotenzial. Zum Mitmachen fordern viele Versuchsanleitungen auf, mit denen Kinder die rudimentären Körperfunktionen und Reflexe an sich selbst testen können. Kleiner Minuspunkt: Wie leider häufiger in Kindersachbüchern mit hoher Informationsdichte zu beobachten, ist auch hier die Schriftgröße zu klein für die noch unerfahrene Leserschaft. Für den besseren Durchblick und auch, um auftauchende Fragen gleich zu klären, kann deshalb ein mit- oder vorlesender Erwachsener an der Seite der Kinder nicht schaden.
Clayton Hanmers Illustrationen spielen angesichts der Fülle von Zahlen, Daten und Fakten eine wichtige Rolle, die über eine bloße Bebilderung der Texte hinausgeht. Mit satten, aufmerksamkeitsstarken Farben wie Ocker, Rot, Violett und Türkis sind sie mal wortwörtlich plakativ, um Wichtiges hervorzuheben, mal sorgen sie detailgenau für mehr Tiefe. Dann sind sie wieder witzige Karikaturen, wie bei den Porträts der »Hominini«-Typen im großen Saal: »sämtliche Menschen aller Zeiten sowie all ihre menschenähnlichen Vorfahren«.
Ein ausführliches Glossar und ein Register ergänzen das 80 Seiten starke Kinderbuch. Auf der letzten Seite dankt die Autorin zahlreichen ausgewiesenen Expertinnen und Experten für Evolution und Fossilien für ihre Beratung. Durch ihr Zutun haben auch neuere Forschungsansätze Eingang in dieses beeindruckende Nachschlagewerk der menschlichen Rudimente gefunden.
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