»Das Osmanische Reich«: Osmanische Aha-Erlebnisse
Das Tässchen Kaffee am Morgen ist für viele Menschen ein fester Bestandteil der europäischen Frühstückskultur – trotz früher Warnungen eines gewissen Herrn Herings im 19. Jahrhundert, der in einem musikalischen Kanon namens »C-A-F-F-E-E« dringend von dem Genuss des »Türkentranks« abriet, weil er die Nerven schwäche, blass und krank mache. Darum solle man doch kein »Muselmann« sein, der das Trinken von Kaffee nicht sein lassen könne.
Türken, Muslime und Kaffee – als Carl Gottlieb Hering Anfang des 19. Jahrhunderts den Kanon schrieb, war das Osmanische Reich zwar schon auf dem Rückzug aus Europa, sein Einfluss reichte aber noch bis weit in den Balkan hinein. Oder um es anders auszudrücken: Für die Europäer dieser Zeit war das Reich der Osmanen nicht ein mythisches Reich in der Ferne, sondern ein direkter Nachbar, von dem man nebenbei auch das Kaffeetrinken gelernt hatte.
Die längste ununterbrochene Herrschaftslinie
Aus heutiger Perspektive ist das Osmanische Reich weit entfernt, sowohl zeitlich wie auch räumlich. Bisweilen taucht es in der Diskussion um den Genozid an den Armeniern während des Ersten Weltkriegs oder in den Reden des türkischen Präsidenten Erdogan auf, der ein neues Osmanisches Reich herbeiträumt.
In der Reihe »wbg Paperback« ist nun die zweite Auflage des erstmals 2018 erschienenen Buchs von Douglas A. Howard über die Geschichte des Osmanischen Reichs vom Mittelalter bis zum Ersten Weltkrieg in der Wissenschaftlichen Buchgesellschaft Darmstadt veröffentlicht worden. Das von Professor Howard vom Calvin College in Grand Rapids, Michigan, stammende Werk ist nicht einfach zu lesen. Nicht, weil es kompliziert geschrieben wäre, sondern wegen der Fülle an Informationen, Beobachtungen und Interpretationen, welche die lange Geschichte des Osmanischen Reichs bietet. Immerhin hatte – weltgeschichtlich gesehen – die Familie Osman die längste ununterbrochenen Herrschaftslinie.
Bemerkenswert ist der methodische Ansatz von Howard: Sein Ziel ist es, die »Weltsicht« der Osmanen aufzuzeigen und durch die Jahrhunderte zu verfolgen. Als Leitmotiv dient ihm der Begriff des Charismas: Es waren die religiöse Legitimierung der Herrschaft, die Fähigkeit, Wohlstand zu generieren, und nicht zuletzt die militärischen Erfolge, die eine hervorragende Plattform boten, um die besonderen Eigenschaften der osmanischen Herrscher hervorzuheben und in der Bevölkerung zu verankern.
Im Blick auf die religiöse Legitimierung verstanden sich die Osmanen als die rechtmäßigen Erben der bisherigen islamischen Herrscher und als Beschützer des Islams; die militärischen Erfolge im Lauf der Jahrhunderte sprechen eine Sprache für sich, da es in der maximalen Ausdehnung des Reichs im 17. Jahrhundert Herrschaftsgebiete auf den drei Kontinenten Afrika, Asien und Europa besaß. Dadurch stand das Reich wirtschaftlich gesehen meist auf festem Boden, allein durch die Kontrolle der wichtigsten Fernhandelswege sowie durch eine durchorganisierte Verwaltung, die, so Howard, aber zu einer gewissen Dokumentationswut neigen konnte.
Die Osmanen waren nicht zimperlich, wenn es um den Erhalt ihrer Herrschaft und ihrer Dynastie ging. Der Brudermord wurde religiös legitimiert, und selbst der eigene Sohn wurde hingerichtet, wenn er der Herrschaft gefährlich werden konnte. Ein Alleinstellungsmerkmal der Osmanischen Dynastie ist das selbstverständlich nicht – europäische Adelshäuser agierten in gleicher Weise.
Die Stärke von Howard liegt darin, dass er es versteht, jeden Zeitabschnitt der langen Geschichte der Osmanen kompakt zu erzählen. Auch im Hinblick auf den Krieg in der Ukraine ist es erhellend, das Kapitel über die Kriege zwischen dem Russischen und dem Osmanischen Reich im 19. Jahrhundert zu lesen, um einen Eindruck über die Genese der geopolitischen Konflikte dieser Region zu bekommen.
Ein Aspekt, den Howard vielleicht gar nicht geplant hatte, begleitet den Versuch, die Weltsicht der Osmanen zu erfassen: Es regt zu philosophischen Gedanken an, wenn es etwa um die Struktur, den Aufbau und den Erhalt von Macht geht. Eigentlich könnte man Machiavelli parallel zu diesem Buch lesen.
Ebenso wird im politischen Klima unserer Zeit deutlich, welche Gefahren es birgt, die ehemals da gewesene Größe des eigenen Volks, der Nation oder was auch immer zu verherrlichen. Geschichtliche Mythenbildung kann leicht zur politischen Propaganda – für oder gegen ein Volk oder eine Nation – benutzt werden.
Zurück zum »Türkentrank« Kaffee, den Hering in seinem Kanon besungen hat: Dieser war auch im Osmanischen Reich von staatlichen wie religiösen Autoritäten nicht wohlgelitten. Kaffeehäuser verbreiteten sich schon im 17. Jahrhundert rasant. Sie galten als Treffpunkt für städtische Sünder, geradezu als Sicherheitsrisiko, weil dort auch Tabak geraucht wurde, den die Engländer eingeführt hatten und der allein darum schon höchst verdächtig war. Moscheen begannen daraufhin Menschen abzuweisen, die nach Kaffee und Tabak rochen. Einige Dinge scheinen kulturübergreifend in Europa und Asien zu sein, so die Bewertung des unschuldigen jemenitischen Kaffees als ruchbares Getränk.
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