Die zweite Krankheit
»Ihre Tochter hat Schizophrenie, aber Sie müssen keine Schuldgefühle haben!« Mit dieser Schilderung der (sicherlich wohlmeinenden) Aussage einer Psychiaterin macht die Mutter einer psychisch erkrankten Tochter in ihrem Erfahrungsbericht eindrücklich deutlich, mit welchen Vorurteilen sich Angehörige von Menschen mit einer psychischen Störung mitunter konfrontiert sehen – auch von Seiten der im Gesundheitssystem tätigen Profis. Denn schließlich, so die Mutter, habe sie bis dahin selbst nicht gewusst, »dass wir Mütter die Macht haben, unsere Kinder in die Schizophrenie zu treiben«.
Wie unterschiedlich sich Stigma und Ausgrenzung im Alltag zeigen können, welche Funktion das für Nichtstigmatisierte hat und welche Folgen daraus für Stigmatisierte entstehen, schildert Nicolas Rüsch gut strukturiert und verständlich in seinem Sachbuch. Er ist Professor für Public Mental Health an der Universität Ulm und Oberarzt am Bezirkskrankenhaus Günzburg. Seit vielen Jahren forscht und lehrt er zu Ursachen und Folgen von Stigma und Diskriminierung und setzt sich für Psychiatrieerfahrene ein.
Rüsch zeigt nicht nur die Notwendigkeit auf, Stigma und Benachteiligung abzubauen, sondern immer wieder auch Ansätze und Strategien, mit denen dies gelingen kann. So erfahren wir etwa von »Supported Employment«, bei dem Coaches Menschen mit psychischer Erkrankung bei der Rückkehr in den Arbeitsmarkt unterstützen. Oder von Interventionen an Schulen wie die des Vereins »Irrsinnig Menschlich«, die es jungen Menschen erleichtern sollen, sich bei psychischer Belastung Hilfe zu suchen.
Ein hochinformatives und kluges Buch, nicht nur für Betroffene und deren Angehörige, sondern auch für alle, die in ihrer Arbeit im Gesundheits- und Sozialwesen täglich Menschen mit psychischer Erkrankung begegnen.
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