Into the wild – auch in Europa?
Wildnis löst Sehnsüchte aus: Die Suche nach unberührter Natur, in der man zu sich selbst findet – die aber auch gefährlich sein kann, wenn man die wilden Tiere und giftigen Pflanzen bedenkt. Wenn man sich solche unberührten Lebensräume vorstellt, kommen einem Trekkingtouren durch den brasilianischen Dschungel mit exotischen Vögeln und Fischen oder Kanureisen in Kanada in den Sinn, wo man großen Beutegreifern wie Bären oder Wölfen begegnet.
Die Wildnis kehrt zurück
Aber sind wilde Tiere in Mitteleuropa tatsächlich unwiederbringlich verloren gegangen? Glücklicherweise nicht. Auch in unserer Region gibt es immer mehr Gebiete, in die die Wildnis zurückkehrt. Diese wilden Flecken ermöglichen es den großen europäischen Beutegreifern Luchs, Wolf und Bär, wieder in Europa Fuß zu fassen.
Von dieser eher unbekannten Seite unserer Umgebung berichten Marc Graf und Christine Sonvilla, ein österreichisches Fotografenpaar, in ihrem neuen Buch »Das wilde Herz Europas – die Rückkehr von Luchs, Wolf und Bär«. Sie erzählen dabei von ihrer Suche nach ungezähmter Natur und ihren zahlreichen Abenteuern.
Das Buch startet mit der Frage, was Wildnis eigentlich ist. Handelt es sich um dieses verklärte Bild von heiler Natur, in die wir uns problemlos einfügen – oder dem bedrohlichen Unbekannten mit vielen unberechenbaren Gefahren? Die Autoren machen klar, dass Wildnis nicht nur aus großen Tieren wie Bären oder Wölfen besteht. Es ist das komplexe Zusammenspiel aus Tieren, Pflanzen, Pilzen und Mikroorganismen, das die Wildnis ausmacht. Und auch der Mensch gehört auf seine Art dazu.
In drei Kapiteln widmen sich die Autoren jeweils einem Naturraum: Wald, Wasser und Gebirge. In jedem dieser Abschnitte begleitet sie der Leser auf ihren Entdeckungsreisen, bei denen sie versuchen, Luchs, Bär und Wolf vor die Linse zu bekommen. Dazu legen sich Graf und Sonvilla entweder selbst auf die Lauer oder nutzen Kamerafallen, die sie in Nationalparks und Wildnisgebieten installieren. Die Ergebnisse sprechen für sich: Die Fotos im Buch sind faszinierend und von sehr hoher Qualität.
Die Verfasser dokumentieren die langsam zurückkehrende Natur und begleiten Wissenschaftler, Förster und Ranger bei ihrer Arbeit. In den Texten liefern sie spannende Hintergrundinformationen und erzählen die Geschichten hinter den Bildern. Dabei führen sie den Leser unter anderem in den österreichischen Nationalpark Kalkalpen, wo man regelrecht mitfiebert, als sie endlich einen Luchs ablichten können.
Sonvilla und Graf berichten aber auch von Rückschlägen: Wenn es etwa nicht erwünscht ist, Wölfe zu fotografieren, um keine Werbung für die Rückkehr der Tiere zu machen. Denn Wölfe sind immer noch die unbeliebtesten der drei Beutegreifer – das aber zu Unrecht, wie die Verfasser deutlich machen. Wölfe können durchaus positive Auswirkungen auf ihr Ökosystem haben: Das Wild ist beispielsweise aufmerksamer und gesünder, wenn Wölfe vorhanden sind und Aasfresser profitieren von dem was die Wölfe übrig lassen. Manchmal ist hingegen auch ein unkompliziertes Miteinander möglich: Im slowakischen Tatra-Nationalpark existieren Braunbären und Wanderer nebeneinander und respektieren sich gegenseitig. Ebenso kann der Leser die Wildnis erleben, indem er die Autoren an einen der letzten wilden Flüsse, die Salza in Österreich, begleitet, mit ihnen Steinböcke beobachtet oder eine 200-jährige Tanne besucht.
Mit ihrem Werk sprechen Sonvilla und Graf eine Vielzahl von Personen an, egal ob Laien oder Fachkenner. Dabei schaffen sie es, den Leser einerseits durch die schönen Bilder, andererseits durch die spannende Erzählweise, zu faszinieren und zu fesseln. Der Aufbau ist dabei angenehm durchdacht. Jedes Überkapitel widmet sich einem Beutegreifer und einem Naturraum. Die Übersichtskarte mit den besuchten Orten in der Buchinnenseite hilft dem Leser, den Überblick zu behalten. Außerdem ist das Buch – auf FSC-Papier gedruckt und ohne synthetische Inhaltsstoffe – umweltfreundlich und passt damit zum Inhalt. Am Ende geben die Autoren weiterführende Quellen an, in die man sich am liebsten sofort einlesen möchte.
Bei der Textsetzung gibt es leider kleinere Schwachpunkte: So wird der Text oft mitten im Satz unterbrochen, auf die zwei Seiten mit Bildern folgen und erst danach fortgesetzt, was das Lesen erschwert. An einer Stelle fehlt das Ende eines Satzes sogar ganz. Das machen die spannenden Erzählungen und faszinierenden Bilder aber alles wett. Außerdem ist es schade, dass man nichts über die Autoren erfährt, mit denen man gedanklich unterwegs ist. Graf und Sonvilla beenden ihr Werk mit einem Appell für ein wilderes Europa und dem Wunsch, das wilde Herz der Leser zu aktivieren – das ist ihnen auf jeden Fall gelungen.
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