»Der Elefant im Universum«: Der Dunklen Materie auf der Spur
Wer sich vorrangig mit Kleinigkeiten beschäftigt, übersieht oft den buchstäblichen Elefanten im Raum. Das Große, Unbekannte wird einfach ausgeblendet – selbst in der Wissenschaft. Schillings »Elefant im Universum« ist eine Metapher für die Dunkle Materie. Offenbar besteht der überwiegende Teil des materiellen Universums aus dieser wirkmächtigen Substanz – doch keiner konnte sie bislang beobachten oder ihre physikalische Natur begreifen. Der Pragmatiker neigt in einer solchen Problemlage gerne zur Ignoranz. Der Autor geht einen anderen Weg.
Govert Schilling ist ein niederländischer populärwissenschaftlicher Schriftsteller und Amateurastronom. Er hat einige Zeit am Amsterdamer Planetarium gearbeitet und über 50 Bücher geschrieben. Sein Fachwissen und seine didaktische Erfahrung spiegeln sich in diesem Buch wider. Es ist verständlich geschrieben und niemals langweilig. Natürlich gibt es bereits massenhaft populäre Publikationen zum Thema. Was also bietet das Werk Besonderes? Eine seiner Qualitäten: Es präsentiert viele Personen und Geschichten, von denen der Autor – auch aus zahlreichen persönlichen Treffen – locker und unkonventionell berichtet. Das Original erschien 2022 unter dem Titel »The Elephant in the Universe«. Damit stellt sich die Frage nach der Qualität der Übersetzung. Hier haben Susanne Richter und der Kosmos-Verlag gute Arbeit geleistet. Auch redaktionelle Fehler habe ich keine gefunden.
Der kosmische Elefant beherrscht auch die drei Teile des Buchs, überschrieben mit »Das Ohr«, »Der Stoßzahn« und »Der Rüssel« (der Verweis auf eine Hindu-Fabel auf Seite 7 erläutert diese Metaphorik). Der Text, gegliedert in insgesamt 25 Abschnitte, umfasst etwa 350 Seiten. Das Buch hat ein kompaktes Format, das Layout ist ansprechend und integriert 25 Schwarz-Weiß-Abbildungen. Auf 27 Seiten sind die Quellen genannt, gefolgt von einem ausführlichen Register – beides ein nicht unbedingt üblicher Service.
Dunkle Materie: theoretisch offenbar notwendig, praktisch nicht zu fassen
Der erste Teil beginnt mit dem Abschnitt »Materie, aber nicht wie wir sie kennen«. Hier porträtiert der Autor den Kosmologen und Nobelpreisträger James Peebles, Vater des »Cold Dark Matter«-Modells. Anschließend geht es um seinen Besuch des unterirdischen Gran-Sasso-Labors in Italien. Hier befindet sich ein »Ohr«, das, abgeschirmt von kosmischer Strahlung, auf akustische Signale der Dunklen Materie lauscht. Dann stellt Schilling »Die Pioniere« vor. Interessanterweise kamen zwei Landsleute auf die Idee, dass es Dunkle Materie geben müsse: die Niederländer Jacobus C. Kapteyn und Jan Hendrik Oort. Meist wird hier zuerst der ungarisch-schweizerische Astronom Fritz Zwicky genannt, der später ein Massendefizit in Galaxienhaufen feststellte. Der endgültige Durchbruch gelang dann Vera Rubin und Kent Ford mit ihren Messungen zur Rotation von Galaxien. Nur die Annahme einer gewaltigen, unbekannten Masse konnte die hierbei festgestellten extremen Geschwindigkeiten erklären. Der Elefant war nun endgültig im Raum.
Leider konnte die Astronomie bislang keinen überzeugenden Kandidaten für den rätselhaften Stoff liefern. Die üblichen Verdächtigen wie Schwarze Löcher oder Zwergsterne kommen nicht in Frage, denn es gibt sie nicht in der erforderlichen Menge. Immerhin hat man dem Elefanten einen Namen gegeben: MACHO (»Massive Compact Halo Object«). Dieser Begriff suggeriert zwar wissenschaftliche Kompetenz, ist aber kaum mehr als eine Nebelkerze. Nicht viel besser machen es die Teilchenphysiker, ihr Elefant heißt WIMP (»Weakly Interacting Massive Particle«). Gefordert ist ein »kaltes« (langsames) Elementarteilchen, das nur über die Gravitation wechselwirkt. Gespannt sitzen die Experimentalphysiker vor ihren Detektoren, doch nichts zeigt sich, wie in Teil 2 ausführlich erläutert wird. Und der Theoretiker fragt in seiner Verzweiflung, ob das altehrwürdige Gravitationsgesetz überhaupt gültig ist. So vergeht Jahr um Jahr, und der Frust steigt in allen Lagern.
Im dritten Teil wagt der Autor einen Blick in die Zukunft. Schweres Geschütz wird bei der Suche nach der Dunklen Materie aufgefahren, etwa in Form des Weltraumteleskops »Euklid«. Man nimmt das Problem weiterhin sehr ernst und spart nicht am Geld. Wird sich die Dunkle Materie irgendwann offenbaren – oder existiert sie vielleicht doch nicht? Das würde die Grundfesten der Physik erschüttern. Als Schilling sich des brisanten Themas annahm, war er – angespornt vom Nachweis der Exoplaneten und Gravitationswellen – optimistisch, dass sein Buch vielleicht »das erste wäre, das über die lang erwartete Lösung des Rätsels der Dunklen Materie berichtet«. Es kam natürlich anders, und so lesen wir in der Einleitung: »Wenn Sie die letzte Seite dieses Buchs erreicht haben, werden Sie immer noch nicht wissen, woraus der größte Teil des materiellen Universums besteht.«
Lohnt sich also die Lektüre dieses Buchs? Unbedingt! Es gibt einen profunden und zugleich spannenden Einblick in die moderne Astro- und Teilchenphysik. Besondere Vorkenntnisse sind nicht erforderlich. Sie können das Buch sogar als handliche Bettlektüre verwenden, allerdings verbunden mit der Gefahr, nicht einschlafen zu können – es ist schließlich ein Elefant im Raum!
Schreiben Sie uns!
Beitrag schreiben