Auf dem Teppich bleiben
Fiktionen sind mächtiger, als viele glauben. Stimmungen können die Börse ins Straucheln bringen und Placebos können Schmerzen übertünchen. "Nicht nur die Dinge bestimmen den Menschen, sondern auch die jeweiligen Ansichten über die Dinge, die unweigerlich eine zweite Schattenwirklichkeit erzeugen", betont Philosoph und TV-Moderator Gert Scobel in seinem neuen Werk.
Scobel richtet das ganze Buch an einem Bild aus: dem des fliegenden Teppichs. Ein solcher ist zugleich existent und nichtexistent. Existent, weil wir fliegende Teppiche in Kinos, Büchern und Fotomontagen erleben. Nichtexistent, weil es sie in der Realität nicht gibt. Die Metapher des Teppichs, und des damit verbundenen Abhebens und Fallens, wendet Scobel auf diverse Phänomene aus dem Alltag bis zur Naturwissenschaft an. Wenn wir etwa einen geliebten Menschen verlieren, scheinen wir ins Bodenlose zu stürzen. Und auch die Quantenphysikerin droht den Boden der Intuition und des "gesunden Menschenverstands" unter den Füßen zu verlieren, wenn sie die Welt des Allerkleinsten beschreibt.
Risiko Mensch
Der Autor schlägt einen weiten Bogen von Platons Höhlengleichnis über Kant und Wittgenstein bis hin zum Film "Matrix". In den ersten Kapiteln zeigt der TV-Moderator, "dass alles Wissen zeit- und kontextabhängig ist". Derzeit wachse das Wissen exponentiell, während das Weltgeschehen komplexer und widersprüchlicher werde. Wie hängen Finanzkrise, Klimawandel, Umweltzerstörung, Kriege und Terrorismus zusammen? Fast jeder hat andere Antworten hierauf.
Flugzeuge, Raumschiffe oder Wolkenkratzer zu bauen, ist laut Scobel ein "sichtbar gewordener Ausdruck der Grundannahmen der westlichen Zivilisation". Diese strebe danach, mittels Technik und Wissenschaft sicheren Boden unter die Füße zu bekommen, um nicht zu fallen – manchmal um jeden Preis. Scobel betont, "dass der moderne Mensch selbst das Risiko darstellt, das er ausschließen wollte. Es liegt daher zutiefst in der Logik der Moderne, den Menschen abzuschaffen und durch immer umfassendere Algorithmen und autonome Systeme zu ersetzen. Der Mensch in seiner natürlichen, unbearbeiteten biologischen Standardform ist der eigentliche Feind der Moderne, die er geschaffen hat. Genau das ist Teil der derzeitigen Krisen. Der Mensch kämpft gegen sich selbst, indem er versucht, seine eigene Unberechenbarkeit durch Technologie in den Griff zu bekommen."
Scobel geht davon aus, dass unsere Welt maßgeblich durch unsere Vorstellungen und Fiktionen geformt wird: Man müsse sich ein Flugzeug oder Atomkraftwerk erst vorstellen, um eins bauen zu können. Angesichts von Überwachungstechnologien, Gentechnik und anderen Erfindungen warnt Scobel vor gefährlichen Fiktionen, frei nach dem Motto: Pass auf, was du dir wünschst oder vorstellst, es könnte wahr werden.
Bessere Fiktionen
Unsere Aufgabe sei es daher, Selbstkritik zu üben und unsere Vorstellungen stets dahingehend zu überprüfen, ob sie in der Wirklichkeit Bestand haben, denn "der Weg zur besseren Welt ist ein Weg der besseren Fiktion". Scobel nennt seine Position "fiktiver Realismus" und empfiehlt, sich von übernommenen Meinungen frei zu machen, die Vogelperspektive einzunehmen und, soweit möglich, die Wirklichkeit unvoreingenommen zu betrachten. Im Zeitalter der Fake-News, die verheerende "sprachliche Teppiche" seien, müsse man sich an den Ausspruch des antiken Philosophen Epiktet erinnern: "Nicht die Dinge verwirren die Menschen, sondern die Meinungen über die Dinge."
Gert Scobel schreibt verständlich, präzise und leichtfüßig. Den ersten Kapiteln fehlen etwas Zugkraft und nennenswerte Aha-Erlebnisse, doch in den letzten Kapiteln nimmt der Autor an Fahrt auf und schreibt mit Verve. Mit dem Teppich hat Scobel eine überzeugende Metapher gefunden, um die Wirren der Moderne zu analysieren.
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